Lockende Flammen
T-Bone-Steak, das nach Florentiner Art eingelegt und gegrillt war –, Salat aus sonnengetrockneten Tomaten, Oliven und frischen Kräutern sowie einem Glas Weißwein am Tisch saß, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Aber das währte nur so lange, bis Alessandro von seiner Familie zu erzählen begann.
„Also, die Feierlichkeiten am Wochenende werden, wie schon gesagt, in einem sehr förmlichen Rahmen ablaufen, und von mir wird erwartet, dass ich die mir zugedachte Rolle dabei spiele. In Italien wird die Familie generell sehr hoch geschätzt, aber für einen Sizilianer ist sie praktisch heilig. Obwohl das für unseren Vater in Bezug auf seine erste Frau und seine Söhne aus erster Ehe nie gegolten hat. Sie zählten einfach nicht.“
Leonora hörte die wütende Verachtung in seiner Stimme mitschwingen, aber sie hielt sich mit ihrer Meinung zurück.
„Bedauerlicherweise hat unser Vater sein ganzes Leben lang andere Menschen unterdrückt, darunter auch uns, seine Söhne. Trotzdem erwartet er nun, da sich sein Leben seinem Ende zuneigt, dass wir ihm jene Liebe und Achtung entgegenbringen, die er uns von klein auf verweigert hat, während er seiner zweiten Frau und seinem Sohn aus zweiter Ehe gar nicht genug Aufmerksamkeit zukommen lassen konnte. Deshalb sieht es mancher auch als verdiente Strafe an, dass er die beiden einzigen Menschen verloren hat, die ihm nahestanden.“
Leonora war so schockiert über Alessandros Enthüllungen, dass sie nicht anders konnte, als ihren Gefühlen Luft zu machen. Das köstliche Essen auf ihrem Teller hatte plötzlich jeden Reiz verloren.
„Oh, wie schrecklich! Er muss Sie und Ihre Brüder sehr verletzt haben“, entfuhr es ihr spontan.
„Jemand, der einem nichts bedeutet, kann einen auch nicht verletzen“, gab er hart zurück. Aber Leonora glaubte ihm ansehen zu können, dass es irgendwann eine Zeit gegeben hatte, da sein Vater ihn sehr enttäuscht hatte.
„Ich erwähne das nur, damit Sie den Familienhintergrund zumindest ansatzweise kennen, sonst sind Sie nicht glaubwürdig. Und da ist noch etwas, das Sie wissen müssen: Auf dem Sterbebett hat unser Stiefbruder Antonio unserem Vater weiszumachen versucht, dass es irgendwo da draußen ein uneheliches Kind von ihm gibt. Nach seinem Tod verlangte unser Vater von uns, dass wir dieses Kind suchen und nach Sizilien holen. Falcon ist es tatsächlich gelungen, eine Frau aufzuspüren, die mit Antonio zur fraglichen Zeit Kontakt hatte und neun Monate später ein Kind zur Welt brachte.“
„Und was geschah dann?“, fragte Leonora, die schon ahnte, wie die Geschichte weiterging.
„Am Ende stellte sich heraus, dass der Junge, den wir nach Sizilien geholt hatten, doch nicht Antonios Sohn war, obwohl seine Mutter damals mit Antonio eine kurze Affäre hatte. Seine Tante, die wir anfangs für seine Mutter hielten, hatte ihn zu sich genommen, nachdem seine Eltern bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen waren. Heute allerdings wächst er trotzdem in unserer Familie auf, weil besagte Tante, die ihn nach Sizilien begleitete, kürzlich meinen jüngeren Bruder geheiratet hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls war es nicht einfach, unseren Vater zu überzeugen, dass dieses Kind nicht sein Enkel ist. Obwohl es für den Jungen ein großes Glück ist.“
Er klang so kühl und kontrolliert, dass Leonora nicht umhin kam, ihn für seine Haltung zu bewundern. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die eines Raubtiers, aber der Ausdruck in seinen Augen verriet ihr, dass er ein verletzlicher und verletzter Mensch war. Denn auch er war früher einmal ein Kind gewesen – ein verlorenes, verängstigtes Kind, das sich nach nichts mehr gesehnt hatte als danach, geliebt und beschützt zu werden.
Jetzt presste er kurz die Lippen zusammen, und seine Augen glitzerten kalt, als er fortfuhr: „Heute bin ich dankbar dafür, dass ich der am wenigsten akzeptierte Sohn meines Vaters war, denn dadurch habe ich viel gelernt. Mich hat er besonders gern gedemütigt, und er vergaß nie, mich daran zu erinnern, dass ich keinen eigenen Wert habe und bestenfalls nur Mittel zum Zweck bin, falls es irgendwann darum gehen muss, meinen älteren Bruder zu ersetzen.“
Leonora hatte geglaubt zu wissen, wie es sich anfühlte, immer erst an zweiter Stelle zu kommen, aber das, was Alessandro da eben so schonungslos enthüllt hatte, war der blanke Horror. Es war so entsetzlich, dass sie spontan die Hand ausstreckte, um ihn tröstlich am Arm zu berühren.
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