Lockende Flammen
fiel und zum Bett huschte. Leonoras Zehen begannen zu kribbeln, während ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Sie erwog aufzustehen, um nachzusehen, ob das Fenster wirklich offen war und es gegebenenfalls zuzumachen, aber sie wagte es nicht. Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken, also dachte sie an Alessandro und daran, wie sehr sie sich wünschte, dass die Sache gestern Abend anders verlaufen wäre.
Was natürlich hieß, dass sie sich wünschte, dass sie anders wäre. Dass sie davon träumte, eine selbstbewusste Frau zu sein, die sich nicht scheute, alle Sinnenfreuden, die sie mit Alessandro erleben konnte, genüsslich auszukosten, statt sich ihm aus Angst vor Demütigung zu entziehen. In diesem Fall würde sie jetzt wahrscheinlich längst erschöpft und zufrieden in seinen Armen schlafen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an die Spinne verschwenden zu müssen oder daran, wie wütend sie ihn gemacht hatte.
Sie wusste, dass sie zu weit gegangen war. Natürlich hätte sie ihn viel früher aufhalten müssen. Aber sie war von der Intensität ihrer eigenen Reaktion überrascht worden. Es war einfach eine ganz und gar neue Situation für sie gewesen, wie hätte sie da noch einigermaßen rational reagieren sollen? Das eigentliche Problem an der Sache war ihre Unerfahrenheit …
Als sich der Vorhang heftiger bewegte, schrie sie vor Panik auf.
Alessandro fuhr aus dem Schlaf hoch und knipste die Nachttischlampe an. Der warme Lichtschein fiel über das Bett und auf Leonoras verängstigtes Gesicht.
„Kann es sein, dass das Fenster offen ist?“, fragte sie mit zitternder Stimme und fügte erklärend hinzu: „Es ist nur, weil sonst vielleicht die Spinne wieder ins Zimmer kommt.“
Sie hatte ihn in seinem Stolz verletzt, und dafür würde er sie büßen lassen. Allerdings nicht, indem er ihre sehr reale Angst zu seinem Vorteil ausnutzte, so viel war Alessandro klar. So tief würde er nie sinken, dafür hatte er selbst viel zu oft am eigenen Leib erleben müssen, wie verheerend sich ein derartiger Machtmissbrauch auf einen Menschen auswirken konnte. Diese Erfahrung hatte er seinem Vater zu verdanken, der sich nie gescheut hatte, sich solcher Taktiken zu bedienen. Aber Alessandro war nicht sein Vater und handelte nach seinen eigenen moralischen Maßstäben.
Und diese Maßstäbe ermöglichten es ihm jetzt, über seinen verletzten Stolz hinwegzusehen und ruhig zu fragen: „Soll ich das Fenster zumachen?“
„Würdest du das für mich tun?“ In ihrer Stimme schwangen Hoffnung und Ungläubigkeit mit. Dass ein Mann – vor allem ein Mann wie Alessandro – bereit war, etwas für sie zu tun, war eine ganz neue Erfahrung für sie. Andererseits hatte Alessandro sie in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft schon mehr als einmal positiv überrascht.
Nach allem, was vorgefallen war, war sein Angebot so großzügig, dass Leonora trotz ihrer Angst sofort Gewissensbisse bekam. Sie war verwirrt und verunsichert, weil sie sich auf ein fremdes Territorium begeben hatte, wo sie nur allzu verletzlich war.
Sie hätte sich nie vorstellen können, dass sie sich von Alessandro so angezogen fühlen, geschweige denn, dass sie diesen Gefühlen so hilflos ausgeliefert sein könnte.
Tatsache war, dass sie ihr Bild von ihm grundlegend revidieren musste. Das Bild des Mannes, den Leo ihr geschildert und der ihre Bewerbungen immer wieder abgelehnt hatte, hatte nichts mit dem Bild des Mannes zu tun, in dessen Armen sie gestern Abend gesunken war und der jetzt neben ihr lag.
Ihr Vater und ihre Brüder hatten schon immer gewusst, wie sehr sie sich vor Spinnen fürchtete, und doch wäre ein solches Angebot von ihrer Seite schlicht undenkbar. Obwohl alle sie liebten, natürlich wurde sie geliebt. Aber das Konkurrenzverhalten, das ihr Vater seinen drei Kindern eingeimpft hatte, war nicht nur zu ihrem Vorteil gewesen, wie Leonore mittlerweile verstand. Es war eine Erziehung gewesen, in der Schwäche, gleich welcher Art, strengstens verpönt gewesen war.
Natürlich musste man ihrem Vater zugute halten, dass es ihm wichtig gewesen war, seine Kinder alle gleich zu behandeln. Er hatte getan was in seiner Macht stand, und bestimmt war es für ihn nicht einfach gewesen, in so jungen Jahren seine Ehefrau und die Mutter seiner Kinder zu verlieren. Sie hatten alle darunter gelitten, wie auch nicht? Trotzdem hatte Leonora den Verdacht, dass sie selbst den höchsten Preis bezahlt hatte, weil sie ohne weibliches Vorbild hatte aufwachsen müssen.
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