Löwenherz. Im Auftrag des Königs
Greenleaf zu retten. »Wir müssen hier weg«, sagte er schließlich. »Unsere Führer haben wir auch verloren.«
Sie trieben die Kamele die Sandrampe hinauf, auf der die Ritter heruntergekommen waren. Instinktiv hatten sie im Wadi, das keinen Ausblick ins Gelände bot, ein mulmiges Gefühl.
Vor ihnen erstreckte sich eine gewellte Ebene, in der sich ein schroffer Felsen erhob und darauf eine Burg. Am Fuß des Felsens befand sich eine Ansiedlung. Die Spur aus aufgewühltem Sand, die die Ritter hinterlassen hatten, führte schnurgerade in Richtung Burg, wo sich inzwischen eine riesige Staubwolke gesammelt hatte. Hörner ertönten, Metall blitzte, Wimpel flatterten. Vor dem Torbau drängten sich winzige Gestalten.
Sie hatten Kerak erreicht, die Burg von Raynald de Chatillon, die Burg, so hatte ihnen Joel erklärt, die die letzte Verteidigungsstellung der Christen landauf, landab war. Die Burg, in der ihr Vater ein Gefangener war. Aber nun waren alle in der Burg Gefangene.
Sultan Saladin lag mit seinem Heer vor Kerak und hatte mit der Belagerung begonnen.
6
D iese Feiglinge!«, schimpfte Robert, nachdem sie die Kamele hastig ein paar Schritte nach unten gezerrt hatten. Edith fühlte die gleiche Erbitterung wie ihr Bruder. Aus der Deckung heraus beobachteten sie das Soldatenlager. Zelte wurden aufgeschlagen, Belagerungsmaschinen zusammengebaut, Gräben ausgehoben und Wälle errichtet. All dies fand außerhalb der Bogenreichweite der Belagerten statt. Dabei nutzten die Sarazenen klug die Vorteile der am Fuß der Burg gelegenen Ansiedlung. Saladins Soldaten hatten die Bewohner aus ihren Häusern vertrieben, weil sie sich darin verschanzen konnten, falls die Burgbewohner einen Ausfall wagen sollten. Ein zweiter Vorteil der Besetzung lag außerdem darin, dass die vertriebenen Dörfler in die Burg drängten und dort mit durchgefüttert werden mussten. Dadurch wurde die Verteidigungskraft der Belagerten erheblich geschwächt. Was dies betraf, hatte sich Saladin allerdings verrechnet: Die Burgbesatzung ließ die verzweifelten Dorfbewohner nicht ein, sodass panisches Gedränge vor der Burgmauer herrschte. Die Dörfler wussten genau, dass sie beim ersten Angriff zwischen die Fronten geraten würden, wenn sie vor der Burgmauer blieben. Sie konnten aber auch nicht abziehen, denn im Umkreis gab es weit und breit nichts als Staub, Sand und Steine, und es waren Frauen und Kinder unter ihnen.
Edith schluckte. Was den Dörflern bevorstand, ließ sie erschaudern. Die Männer, Frauen und Kinder hatten nichts falsch gemacht – und trotzdem würden sie höchstwahrscheinlich zwischen zwei kämpfenden Parteien zerrieben werden. Wie war sie nur auf die Idee gekommen, ihr eigenes kleines, unwichtiges Schicksal noch wenden zu können? Edith spürte Angst in sich aufsteigen. Wenn sie aus diesem Gedankenkreislauf nicht schleunigst herauskam, würde sie bald nur ein zitterndes, hilfloses Bündel sein.
Roberts Missmut richtete sich nicht gegen die Burgbesatzung, sondern gegen die Ritter, die sie überholt hatten. »Warum haben sie uns nicht geholfen? Ich sag dir, warum: weil sie auf der Flucht sind. Sie lassen die Burg im Stich und ihren Herrn Raynald de Chatillon.«
»Der ein ausgewiesener Pirat, Verbrecher und Friedensstörer ist«, murmelte Edith.
»Sie haben ihm die Treue geschworen!«, ereiferte sich Robert.
Edith antwortete nicht. Sie waren kurz vor dem Ziel gescheitert, daran gab es nichts zu deuten. Und zu allem Überfluss hatten sie auch noch Johnny verloren. Die ganze Zeit hatte sie felsenfest daran geglaubt, dass sie es wirklich schaffen konnten! Nun war ihre kleine Bruderschaft zerbrochen. Was die Sarazenen mit Johnny anstellen würden, darüber mochte Edith gar nicht nachdenken. Wie sollte sie nur weitermachen? Wie sollte sie verhindern, dass sie und Robert hier von Sultan Saladins Soldaten aufgegriffen wurden? Wenn König Richard hier gewesen wäre, dann vielleicht … Aber so?
Gib mir Kraft! , flehte sie im Stillen und verstand zum ersten Mal, was sie bisher nie begriffen hatte: wie erwachsene Männer angesichts einer bevorstehenden Schlacht aus der schieren Gegenwart ihres Königs, wenn er durch ihre Reihen schritt und ein paar aufmunternde Worte äußerte, Kraft schöpfen konnten.
»Was machen wir jetzt bloß?«, stöhnte Robert.
Eine Bewegung neben den Pferdespuren der Ritter aus Kerak weckte Ediths Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen und stieß gleichzeitig Robert in die Seite, um ihn darauf aufmerksam zu
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