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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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kommen wir uns dann näher, vielleicht redet er mit mir, vielleicht werde ich ihm dann meine Fragen stellen. Ich fühlte mich wie die Möwe, die sich in unser Wohnviertel verirrt hatte und vor den Fenstern kreischte. Es war Mitte Oktober, und ich war melancholisch.

Kleine Fluchten
    »Willst du mit einkaufen gehen?«, manchmal kam Abdullah nach Hause und fragte mich, ob ich ihn begleiten wolle. Das waren Feiertage für mich. Abwechslung, ein Ausflug, klar, wollte ich, immer. Ich freute mich irrsinnig. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Aber nein. Stattdessen zog ich mich um, schnappte mir Jacke und Schuhe, und los ging’s. Wie früher als Kind mit meinem Vater. Auch er kam manchmal und fragte: Wer von euch Kindern kommt mit? Einen Kollegen besuchen? Dann schrien wir um die Wette, natürlich wollte jeder mit, und dann liefen wir um die Wette nach draußen, und oft war ich die Schnellste.
    Wenn Abdullah fragte: »Kommst du mit?«, rief ich »Ja« und beeilte mich. »Los, komm«, sagte er. »Warte, ich zieh mir nur noch die Schuhe an. Sofort!« – »Ich kann nicht warten!« Dann riss er die Tür auf, schlug sie wieder zu, blieb kurz davor stehen und machte sich aus dem Staub. So ließ er mich meine Abhängigkeit spüren. Zu stolz, um auf mich zu warten. Bis ich ihm dann durchs Treppenhaus hinterhergerannt kam, den Bäckersleuten noch freundlich zugewunken hatte und zur Glastüre hinausgestürmt war, war er oft schon weg. Er machte sich lustig über mich. Und ich kam mir betrogen und abgekanzelt wie ein kleines Mädchen vor.
    Ab und zu nahm er mich aber doch mit. Ich liebte es, im Auto zu sitzen. Es vermittelte mir die Illusion, überall hingehen zu können. Raus aus meinem Käfig. Freiheit. »Ich will Autofahren lernen«, sagte ich dann zu meinem Mann, »darf ich?« – »Wer setzt dir denn solche Flausen in den Kopf?« – »Ich selbst.« – »Kommt nicht in Frage.« – »Bitte!« – »Zu teuer!« Er sagte mir nicht, dass er nicht wolle, dass ich selbständig würde. Dass ich überhaupt daran dachte, Auto zu fahren, war schon eine Sünde.
    Autos übten schon immer eine große Faszination auf mich aus. Ich muss ungefähr 15 gewesen sein, als mein Vater eines Nachmittags von einem Kollegen nach Hause gebracht wurde. Der Kollege wollte noch auf einen Tee bleiben. Als ich das Haus mit Wasser ausspritze, wie jeden Tag, sehe ich das Auto draußen vor der Mauer stehen. Meine Geschwister spielen im Garten, ich gehe an ihnen vorbei, raus vor die Tür. Der Schlüssel steckt. Einem Polizisten klaut so schnell keiner ein Auto. Ich schleiche um den Wagen herum, das Metall ist warm. »Lass die Finger davon«, ruft mein kleiner Bruder. Aber ich bin schon auf der Fahrerseite, öffne die Tür und steige ein. Setze mich hinter das Lenkrad – welch ein Gefühl! Ich brauche den Schlüssel nur im Zündschloss umzudrehen. Das Auto macht einen Hüpfer nach vorne, ich erschrecke, weiß, dass ich auf eines der Pedale treten muss, das Auto macht noch einen Hüpfer, und der Motor stirbt ab. Ich juble. Weil ich mich traue zu fahren. Gleich noch einmal. Wieder rollt das Auto ein Stück vorwärts. »Bist du lebensmüde?«, höre ich meine Mutter vom Garten aus rufen. »Wenn dein Vater dich erwischt, bringt er dich um.« Aber das stört mich nicht, Hauptsache, ich bin gefahren.
    Jetzt wollte ich alles kennenlernen. Mir jeden Weg einprägen. Wie ein gelehriger Hund saß ich neben Abdullah und schaute nach links und rechts und geradeaus. Nach allen Richtungen, irgendwann würde ich unsere Wohnung verlassen, und irgendwann würde ich alleine diese Wege gehen. Ich wagte kaum, mir diese Hoffnung einzugestehen, es war mehr ein Gefühl. Denn in Wirklichkeit dachte ich natürlich nicht daran, alleine rauszugehen. Ich konnte die Sprache nicht und kannte keine Umgangsformen. Ich hatte viel zu viel Angst. Was, wenn mir etwas zustoßen würde? In dieser fremden Stadt? Wen sollte ich anrufen und fragen? Nicht einmal meine Adresse in Hamburg konnte ich sagen.
    Wir fuhren zu Aldi, 500 Meter links um die nächste Ecke, oder zu Penny, 500 Meter rechts um die Ecke. Noch heute mag ich diese anonymen Geschäfte, in denen keiner den anderen kennt, keiner etwas von einem will und man sich zwischen mannshohen Regalreihen verstecken kann. Im Hintergrund dudelt leise die Musik. Langsam, ganz langsam gehe ich meinen Weg, ziehe meine Bahnen, das Kopftuch tief im Gesicht. Dann vergesse ich meine blauen Flecke und vergesse alles um mich herum, sogar Abdullah,

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