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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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der den Einkaufswagen neben mir herschiebt. Mit meinem Kopftuch bin ich unsichtbar und schaue keinem in die Augen. Bin niemand! Keiner fragt nach mir, ein Staubkorn im Laden. Nichts macht mir meine Bedeutungslosigkeit klarer als dieses Gefühl, mit allen anderen meine Bahnen zu ziehen und in der Anonymität zu verschwinden. Wie ein Stern am Himmel, einer unter Milliarden. So muss sich Freiheit anfühlen.
    Die Geschäfte, die ich in Tunesien kenne, sind öffentliche Orte, an denen geklatscht und getratscht wird. Ich war immer ganz scharf darauf. Wenn ich zum Einkaufen ging, erfuhr ich Neuigkeiten. Doch wann ging ich schon? Mein Vater hatte es verboten. Trotzdem ergriff ich jede Gelegenheit, um zu entwischen, überhaupt rauszukommen – herrlich. Einmal, ich erinnere mich, brauchte meine Mutter Zucker. Ich bot mich an: »Ummi, ich geh und hol dir Zucker.« Im Laden bei den Nachbarn, die ein paar Lebensmittel verkaufen. Meine Mutter weiß, dass wir Mädchen das Grundstück nicht verlassen und nicht vor die Mauer dürfen, aber sie sagt nichts und lässt mich gehen. Aber mitten auf dem Weg sehe ich schon von weitem meinen Vater auf der anderen Seite der Straße auf mich zukommen. Ich ducke mich, aber auch er hat mich schon gesehen, gleich wird es Schläge geben. Ich renne los, durch das große Tor zurück in den Garten, nach hinten in den letzten Winkel zu den frisch gepflanzten Zitronenbäumchen und warte. »Gleich haut er dich, ich weiß es«, sage ich mir leise und kauere mich in die Ecke. Warte, bis mein Vater mich schlagen wird. Er schlägt mich auch. Mit allem, was im Weg und zur Verfügung steht, mit der Hand, mit dem Gürtel, mit dem Stock und mit dem Gartenschlauch.
    Es ist schlimm, ich liege auf der frisch umgegrabenen Erde, schreie. Und nicht zum ersten Mal kommt eine Nachbarin an die angrenzende Grundstücksmauer gelaufen und ruft beschwörend: »Bitte, bitte, Abdelhamid, bitte, Hadsch, bitte, lass deine Tochter, sie ist doch dein Kind!« Das ist ganz falsch, denn nun wird mein Vater noch wütender. Er empfindet es als Schande, dass sich jemand einmischt, und er schlägt noch mehr zu. So lange, bis ich nichts mehr fühle.
    Als ich am Abend desselben Tages meinem Vater das Bett zurechtmachen wollte, wie immer bevor er schlafen ging, da habe ich mir in die Hose gemacht. So sehr fürchtete ich mich vor ihm. Er stand an der Tür, ich die Decken in der Hand vor seinem Bett und spürte plötzlich, wie das Wasser an meinen Beinen hinunterlief. Mein Vater schaute mich an und sagte streng: »Das machst du nie wieder!« Dann musste ich mit nassen Kleidern auf die Knie gehen, um Verzeihung bitten und versprechen, dass ich nie wieder auf die Straße gehe.
    Doch ich bin immer wieder weggelaufen. Und immer wieder bereute ich unendlich, was ich getan hatte. Ich habe doch gewusst, wie es ausgehen würde! Ich durfte nicht auf die Straße und gehen, wohin ich wollte. Ich war ein Mädchen und hatte die Ehre der Familie zu wahren. Und meine Unschuld, von der ich lange nicht wusste, was das heißt, war von größerem Interesse für die Familie als mein Drang nach Freiheit.
    Bei Aldi war ich frei, ging die Regalreihen entlang, strich mit meinen Fingern über die Packungen, über jede Tomatendose, jedes Reinigungsmittel, über Keksrollen und Marmeladengläser, nahm das eine oder andere Ding zur Hand. Ich wägte ab, legte es zurück oder in den Wagen. Lesen konnte ich nicht. Abdullah war großzügig, er verdiente gut, das wollte er zeigen. Schnell durfte ich selbständig nehmen, was wir brauchten und was ich wollte. Alles, Lebensmittel oder Kosmetikartikel, Make-up, Badesachen, Schokolade, Naschereien. Ein kleines Paradies. Ich suchte aus, er schob den Wagen, und am Schluss bezahlte er.

    Abdullah hatte sich Zeit gelassen mit dem Heiraten. Als er mit mir aus Tunesien zurückkam, war er stolz. Endlich eine Frau! Die er in den ersten Wochen, solange sie noch neu war, allen Landsleuten in Hamburg vorführen wollte. Obwohl ich dadurch aus dem Haus kam, war es grauenhaft für mich. »Zieh deinen Kaftan an, den mit der roten Stickerei«, herrschte er mich dann an, »und ziehe das blaue Kopftuch dazu an.« – Warum der Kaftan?, wollte ich fragen, fragte aber nicht, fragte stattdessen: »Zu wem gehen wir?« – »Zu einem Landsmann aus Tunesien.« – »Hat er Frau und Kinder?« – »Ja, aber das geht dich nichts an. Frag nichts, erzähl nichts, sei einfach da.«
    Wie ein Mitbringsel aus Tunesien! Deshalb sollte ich dieses folkloristische

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