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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esma Abdelhamid
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es nicht. Ich musste eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, fror ich, meine Beine zuckten. In der Wohnung war es dunkel und totenstill. Meine Augen waren dick geschwollen vom Weinen. »Wo bin ich? Wer bin ich?«, wie eine graue Wolke dehnten sich die Fragen in meinem Kopf aus. Ich war mir fremd, und es dauerte eine Weile, bis ich die Gegenstände um mich herum wiedererkannte.
    Abdullah war weg, das Telefon hatte er mitsamt dem Stecker herausgerissen und mitgenommen. Mühsam rappelte ich mich auf, kochte Tee, schlief wieder ein. Tagelang dämmerte ich vor mich hin – das Gefühl für Zeit hatte ich verloren. Ich starrte gegen die Wände und sah aus den Augenwinkeln die Sachen der Kinder herumliegen. Warum hat Abdullah mich nicht totgeschlagen? Ich konnte nicht aufstehen, keinen klaren Gedanken fassen. Alles war zerstört. Und doch konnte ich nicht glauben, dass meine Söhne schon wieder weg waren. Irgendetwas in mir wehrte sich dagegen. Vielleicht hatte Abdullah sie für ein paar Tage zu seiner Freundin gebracht, um mir einen Schrecken einzujagen? Sicher würden sie gleich zurückkommen.
    Drei oder vier Tage verbrachte ich in diesem merkwürdigen Zustand der Schwebe, war ziel- und orientierungslos, zeitlos, im Nichts. Konnte nur daran denken, dass die Kinder bestimmt sofort zurückkämen. Gleich, gleich würden sie klingeln und hereinstürmen. Ich fixierte die bunt gemusterte Tapete im Wohnzimmer und sah inmitten von Schnörkeln einen Teufel auftauchen. Wo bin ich? Sind da nicht Schritte auf dem Flur? »Vergiss die Kinder«, dröhnte es in meinem Kopf. Ich wartete, setzte keinen Schritt vor die Tür. Wenn sie kämen, wollte ich das auf keinen Fall verpassen.
    Irgendwann klingelte es tatsächlich. Ich erschrak zu Tode. Die Kinder? Abdullah? Nein, er würde nicht klingeln. Ich stand auf, zog mir einen Bademantel über, schleppte mich zur Tür und öffnete. Karimah? Ich muss ausgesehen haben wie ein Gespenst, bleich, abgemagert, die Augen rot und blau von Abdullahs Schlägen. Als ich meine Freundin sah, ließ ich mich auf den Boden fallen und brach in Tränen aus. »Was ist los mit dir? Um Himmels willen, du siehst ja furchtbar aus.« Ich konnte nichts antworten, schluchzte nur. Da setzte sie sich zu mir und fing an, mir über den Rücken zu streicheln. Sie war erschüttert, in abgehackten Sätzen versuchte ich ihr zu erzählen, was ich wusste: »Die Kinder sind weg, verschwunden – in Tunesien, hat Abdullah gesagt – wieder entführt – er hat gesagt, ich würde sie nie wieder sehen – aber sie kommen bestimmt gleich zurück.« Karimah nahm mich in den Arm, zog mich langsam in die Wohnung zurück und schloss die Tür. Sie wollte nicht glauben, was passiert war.
    Wir hatten uns, seit ich zurück in Hamburg war, nicht oft gesehen. Nachdem sie tagelang unzählige Male versucht hatte, bei mir anzurufen und keiner das Telefon abgenommen hatte, wollte sie nach mir sehen. Und fand ein Häufchen Elend. Die Arme, mich in diesem heillosen Zustand anzutreffen, hatte sie nicht erwartet. »Komm mit zu mir«, sagte sie nach einer Weile. »Du darfst dich nicht länger in der Wohnung verschanzen, hier gehst du zugrunde. Deine Kinder kommen bestimmt nicht zurück. Ich lass dir ein Bad ein und koche uns etwas zu essen.« Ich wollte nicht, so verstört war ich immer noch. Aber Karimah hatte Geduld, wie auf ein kleines Kind sprach sie auf mich ein. »Bitte komm mit! Dann kannst du auch in Tunesien anrufen und fragen, ob die Kinder wirklich dort sind.« Immer wieder: »Komm mit mir.«
    Sie legte mir Kleider zurecht, sodass ich nur noch hineinzuschlüpfen brauchte, dann verließen wir zusammen die Wohnung. Nicht ohne die Tür einen Spalt breit offen zu lassen, da ich keine Schlüssel hatte. Draußen fiel Schneeregen, Aprilwetter, aber es tat gut, rauszugehen. Nach dem Bad bei Karimah und einer heißen Suppe fühlte ich mich viel besser. »Willst du jetzt in Tunesien anrufen?«, fragte sie. »Ja, ich muss wissen, was los ist und wo meine Kinder sind.«
    Meine Eltern hatten sich inzwischen ein Telefon angeschafft. Ich zitterte, als ich den Hörer zur Hand nahm. Was würde mich erwarten? Und wenn die Eltern auch nicht wussten, wo Amin und Jasin waren? Ich würde sie vielleicht erschrecken. Der Vater war am Apparat. »Esma, wo bist du? Was machst du? Warum kann ich dich nicht erreichen. So oft habe ich versucht, dich anzurufen«, überschüttete er mich gleich mit einem Wortschwall. Er habe sich Sorgen gemacht, mit mir sprechen

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