Long Reach
Schätzchen«, sagte er, schloss Sophie in die Arme und küsste sie. Ich konnte erkennen, wie kompakt und kräftig sein Körperbau war, was von seinem gelben Kaschmirpulli etwas verdeckt wurde. Sophie küsste ihn zurück und entwand sich dann seinem Griff, indem sie ihn mit ihren polierten Fingernägeln an den Rippen kitzelte. Er ließ sie los, Wachs in ihren Händen.
»Daddy, das ist Eddie.« Sophie sah in meine Richtung. Ich stand wie festgewurzelt.
Tommy wandte seine Aufmerksamkeit mir zu und sein Lächeln ließ etwas nach. »Eddie?«, fragte er.
»Eddie Savage«, sagte ich. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Er betrachtete mich einen Moment lang. Das Blau seiner Augen war verwaschen. Sein Haar war von einem rötlichen Blond, ziemlich lang und aus der Stirn gekämmt. Ordentlich und über die Maßen gepflegt sah er aus mit seinem sauber gestutzten Kinnbart. Er roch teuer, nach Leder, Zigarren mit einem Schuss Zitrone. Als er mir endlich die Hand hinhielt, war sie warm und weich. Weit entfernt von dem männlichen, schmerzhaften Händedruck, den ich erwartet hatte.
Es war, als müsse er hier nichts beweisen.
»Irgendwie verwandt mit Billy Savage?«, fragte er. »Camberwell? Halbschwergewicht?« Seine Stimme klang auch nach Südlondon, aber nur schwach. Alle harten Ecken und Kanten waren abgeschliffen.
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete ich und fühlte mich schon jetzt, als ob er mich völlig durchschaute. »Verwandtenmäßig sieht’s bei mir ein bisschen mau aus.«
»Wirklich? Warum das?«
Ich blickte rüber zu Sophie, weil mir bewusst wurde, dass ich schon wieder auf derselben alten Geschichte herumritt. »Meine Mum und mein Dad sind gestorben«, sagte ich. »Sie waren beide Einzelkinder und deshalb hab ich keine Onkel oder Cousins oder sonst wen.«
Tommy nickte. »Meine waren auch schon unter der Erde, als ich vierzehn war. Kann ein bisschen einsam werden, was? Aber immerhin, weniger Stress zu Weihnachten.« Er machte eine Geste Richtung Sofa. »Komm, setz dich.«
Er stellte den Fernseher leiser, auf dem ein Geschichtskanal lief. Schwarz-Weiß-Bilder von Winston Churchill und Kampfflugzeugen flackerten über den Flachbildschirm. Er glättete die Falten seiner Hose, setzte sich hin und untersuchte die Spitzen seiner braunen Wildlederschuhe. Sie sahen aus, als hätte er sie noch nie im Freien angehabt.
»Also, wie kommst du zurecht, Ed?«, erkundigte er sich. »Du weißt schon, ohne Mum und Dad.«
»Dad …«, sagte Sophie, in diesem anklagenden Jammerton, den nur weibliche Teenager hinkriegen.
»Schon okay, Sophie«, sagte ich. »Ich hab nichts dagegen, Mr Kelly. Ich hab ein bisschen Geld geerbt und deshalb habich eine eigene Wohnung. Eine Weile bin ich noch an der Schule, aber in den Ferien und so jobbe ich schon ein bisschen rum. Ich helfe an einem Stand aus, auf dem Markt.«
»Guter Ort, um die Spielregeln zu lernen, der Markt«, sagte Tommy. »Hab ich auch gemacht. Kennst du dich mit Kunst aus, Eddie?«
Er deutete auf ein großes, abstraktes Gemälde, das den größten Teil der gegenüberliegenden Wand einnahm. Für mich sah es aus wie ein rotes Viereck, bei dem ein orangenes Rechteck in die Mitte gemalt war.
»Nein, eigentlich nicht«, sagte ich.
»Das ist ein Rothko«, sagte er. »Einer der großen amerikanischen Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Was glaubst du, stellt es dar?«
Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte mich nicht zum Deppen machen, indem ich blind drauflos rätselte. »Keine Ahnung.«
»Ich auch nicht. Ich weiß nur, dass ich umso mehr sehe, je länger ich draufschaue. Es schafft in mir ein Gefühl, als ob ich wüsste, was Rothko gefühlt hat, als er es gemalt hat. Erstaunlich, oder?«
Ich nickte, ohne ihm widersprechen zu wollen, doch ich spürte, wie mir zwischen den Schulterblättern der Schweiß hinunterrann. Er machte mich nervös … noch nervöser, als ich ohnehin schon war.
»So bilde ich mir mein Urteil, Ed«, sagte er mir. »Ich hol mir keine Meinungen ein. Ich schaue genau hin und werde mir darüber klar, was ich dabei fühle. Hier drin.« Er klopfte sich auf den Bauch.
Ich bekam einfach nicht heraus, ob er mir etwas zu verstehengeben wollte – dass er
mich
durchschaute. Ich starrte weiter auf das Gemälde, wartete darauf, dass etwas passierte, und das tat es auf einmal auch. Die Ränder der inneren Figur begannen etwas zu schimmern, als ob sich eine Farbe gegen die andere stemmte, und vor meinen Augen wurde es auf einmal lebendig. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher