Long Reach
Chips.«
Mich schüttelte es bei dem Bild, das der Spruch heraufbeschwor.Da näherte sich unsere Jolle. Ihr Scheinwerfer warf einen Lichtstrahl über das Deck, und als Tommy sich umdrehte, fiel sein Blick auf mich. Ich tat einen Schritt vor, als ob ich einen Spaziergang auf Deck gemacht hätte.
»Eddie?«, sagte er. »Was gibt das hier?«
Zweiundfünfzig
Über Nacht war Tommys Stimmung völlig umgeschlagen.
Ich hatte mir fast in die Hose gemacht und keinen Schlaf gefunden. Ich hatte es mir hier in meiner Rolle viel zu gemütlich eingerichtet, das war mir jetzt klar, und war in Gefahr aufzufliegen. Tommys Worte von letzter Nacht hatten mich schmerzhaft daran erinnert, wer er eigentlich war und womit er seinen Lebensunterhalt bestritt.
Am nächsten Morgen war er nicht unangenehm zu mir, nur kühl und zurückhaltend. Dann schloss er sich mit Saul und Dave in der Vorderkajüte ein. Ich hörte, wie er herumbrüllte.
Nie zuvor hatte ich gehört, wie Tommy Kelly auch nur die Stimme erhob.
Als sie wieder herauskamen, erklärte er mir, sie müssten noch ein Geschäft mit Baschmakow zu Ende bringen und das werde ein paar Stunden dauern. Es war offensichtlich, dass ich dazu nicht eingeladen war. Saul zwinkerte mir zu, als brauche ich mir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich war erleichtert. Immer, wenn in Tommys Umfeld etwas schiefging, fühlte ich mich sofort schuldig,als hätte ihn etwas, das ich an Baylis weitergegeben hatte, eingeholt.
Und mich als Nächstes.
»Wär’s okay, wenn ich ein bisschen an Land gehe?«, fragte ich.
»Warum nicht?« Tommys Stimmung schien sich aufzuhellen. »Kauf vielleicht ein paar Geschenke für die Mädels.«
»Ja, daran hab ich auch gedacht«, sagte ich.
Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Tommy und tippte sich an die Nase. »Der Mann hat ein Hirn im Kopf.« Als wäre der Kauf von Mitbringseln für Cheryl und Sophie wichtiger als seine Geschäfte. »Wir lassen dich am Hafen raus, wenn wir auf Baschis Jacht übersetzen.«
Es war ein heller, sonniger Tag. Ich schlenderte mit meiner Ray-Ban auf der Nase um die Cafés und Bars an der Promenade und suchte alles nach Anna ab.
Einen Moment lang war mir einfach nur nach Davonlaufen, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wohin. Meine Gefühle waren gemischt. Wie Tommy plötzlich Zähne gezeigt hatte, das war mir in die Glieder gefahren, aber irgendwie fühlte ich mich doch sicherer bei dem Gedanken, in seinen Schoß zurückzukehren, als das Risiko einzugehen und irgendwohin in die große weite Welt zu flüchten.
Die Welt der Kellys war voll zweifelhafter Geschäfte und Unsicherheit, aber sie enthielt auch Cheryl und Sophie, die mir in vieler Hinsicht wie eine Familie geworden waren. Natürlich hatte ich im Verlauf der letzten Monate Geld eingesammelt und Abholungen gemacht, wenn Dave mir dasaufgetragen hatte. Ich hatte auch mitangesehen, wie ein, zwei arme Trottel durch mehr als nur ein paar Schläge zum Abliefern ermutigt werden mussten. Aber ich fand nicht, dass ich über
alles
einen Bericht erstatten musste. Denn daneben gab es eben auch Mittagessen im Kreise der Familie, Wochenendtrips, die besten Tische in Restaurants und Shows im West End. Es war ein süßes Leben, solange Tommy nur glücklich war.
Im Gegensatz dazu erschien mir die rechtlich einwandfreie Welt von Tony Morris, Baylis und Anna kalt und hart: manipulativ und, ehrlich gesagt, ohne jedes echte Interesse an meinen Lebensumständen und meinem Wohlergehen. Ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte.
Ich hatte Shorts und ein schwarzes Lacoste-Polohemd übergezogen, um nicht aufzufallen wie ein Schinkenbrötchen bei einer Bar-Mizwa. Als ich sie schließlich entdeckte, sah ich, dass sie das Gleiche getan hatte: schwarzes Top und Jeansrock. Wegen der Farbe ihrer Kleidung hatte ich sie zunächst nicht bemerkt, aber ihre Attraktivität war dann doch nicht zu übersehen, und ich steuerte rasch auf sie zu – genau wie ein halbes Dutzend anderer Kerle, die verstohlen in der Nähe herumlungerten. Sie stand wieder vor demselben Laden und las in einer Zeitung.
Sobald sie mich bemerkt hatte, ging ich weiter geradeaus, eine kopfsteingepflasterte Seitengasse hoch in Richtung eines kleinen Platzes vor einer Kirche. In der Mitte stand ein Brunnen, also ließ ich mich auf seinem Steinsockel nieder. Es waren auch ein paar Nonnen da und einige dieser völlig in Schwarz gekleideten Greisinnen, die in fremden Ländern immer vor den Kirchen herumhingen. Alte
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