Loretta Chase
Lassen
Sie mich sofort los!«
»Tut mir
leid«, sagte er. »Wir müssen verschwinden, ehe der Konstabler aus dem Dorf hier
auftaucht und man herausfindet, wer du bist. Sonst kommst du wieder in die
Zeitung.«
»Lisle?«
»Wer denn
sonst?«
Kurzes
Schweigen, dann: »Nein!«, schrie sie. »Nimm gefälligst deine Finger von mir!
Ich bin mit diesem Dummkopf noch nicht fertig!« Sie versuchte, nach hinten
auszutreten, aber er hielt seine Beine in sicherem Abstand, als er sie über den
Hof zur Kutsche beförderte.
»Wenn du
dich nicht sofort beruhigst, werde ich dich k.o. schlagen, dich fesseln und
knebeln und dich auf direktem Wege nach Derbyshire bringen.«
»Ooooh, wie
groß und stark du bist!«, höhnte sie. »Da bekomme ich ja richtig Angst.« Der
Wirt war ihnen nach draußen gefolgt, eilte voraus und riss beflissen den Schlag
auf, noch ehe der Lakai dazu kam. Lisle schob sie den Kutschentritt hoch. Sie
stolperte in den Wagen, wo ihre Dienerin sie auffing. Er schlug den Schlag
hinter ihr zu.
»Fahren Sie
los«, wies er den Kutscher an. »Ich folge zu Pferde.«
Er sah der
Kutsche nach, die mit ratternden Rädern aus dem Hof schwankte.
»Danke,
Sir, vielen Dank«, sagte der Wirt. »Immer besser, die Damen in solchen Fällen
aus dem Weg zu schaffen. Aus den Augen, aus dem Sinn, sag ich immer.«
Lisle
drückte ihm ein Geldsäckchen in die Hand. »Hier, für das zertrümmerte Mobiliar.
Entschuldigen Sie die Umstände«, sagte er.
Dann sah er
sich rasch nach Nichols und seinem Pferd um. Kurz darauf war er schon wieder
auf der Old North Road.
Sie würde
ihn umbringen.
Es sei
denn, er kam ihr zuvor.
Ware, Hertfordshire
einundzwanzig Meilen von London
Sie seien am Verhungern, verkündeten
die Damen Cooper und Withcote beim Entsteigen der Kutsche und eilten zum
Frühstück ins »Saracen’s Head«.
Olivia
schickte ihnen Bailey hinterher und blieb selbst im Wagen, um sich zu sammeln.
Sie brauchte einen kühlen Kopf und musste in Ruhe darüber nachdenken, wie sie
mit Lisle verfahren wollte.
Doch
nüchternes Nachdenken war gar nicht so einfach, wenn man von den Strapazen der
Reise erschöpft und zudem darüber verärgert war, sich verkalkuliert zu haben.
Das ständige Geplapper der beiden Damen, so liebenswürdig sie auch sein
mochten, war zudem nicht gerade hilfreich gewesen. Lisle in Aktion dürfte das
Aufregendste gewesen sein, was sie in den letzten Jahren zu sehen bekommen
hatten. Sie hatten gar nicht mehr aufhören können, zu schnattern und
Vermutungen anzustellen über seine Muskelkraft, seine Ausdauer und derlei mehr.
Die
anzüglichen Bemerkungen hatten wenig dazu beigetragen, Olivia vergessen zu
lassen, wie Lisles Arm sich so wunderbar warm und stark über ihren Leib gelegt
hatte. Sie konnte ihn praktisch noch immer spüren, als hätte er einen Abdruck
auf ihrem
Körper hinterlassen. Zum Teufel mit ihm.
Egal. Er
war ein Mann von sehr männlicher Ausstrahlung, was aufregend war. Aber sie
würde darüber hinwegkommen.
Und weil er
nun mal Lisle war, konnte er vermutlich nicht anders, als sie zu verdrießen und
früher als erwartet aufzutauchen.
Natürlich
hatte sie gewusst, dass er ihr folgen würde. Er sah sich als ihren großen
Bruder und glaubte, sie beschützen zu müssen. Zudem hielt er sich – wie so
viele Männer, fälschlicherweise – für viel vernünftiger und fähiger als eine
Frau. Männer vertrauten Frauen keine Aufgaben an, die über Haushaltsführung und
Kindererziehung hinausgingen – und in den besseren Kreisen vertraute man ihnen nicht
einmal das an.
Selbst ihre
Mutter, die ihren Fehlern gegenüber keineswegs blind war, wüsste, dass Olivia
bestens dazu in der Lage war, sowohl eine lange Reise als auch die
Restaurierung einer baufälligen Burg zu bewerkstelligen. Nicht dass sie die
ganze Arbeit allein zu tun gedachte, aber sie könnte es schaffen, wenn
sie denn wollte. Eigentlich lief ja alles nach Plan, von dem kleinen
Zwischenfall im »Falcon Inn« mal abgesehen. Den sie übrigens sehr genossen
hatte. Die Miene des Rabauken, als sie ihm ihren Handschuh ins Gesicht
geschlagen hatte, war einfach köstlich gewesen. Doch dann hatte Lisle kommen
und sie wegschleifen müssen ...
Der
Kutschenschlag wurde geöffnet.
Da stand er
und sah sie an. Um eines seiner silbergrauen Augen schillerte die Haut
regenbogenbunt.
»Du
solltest jetzt auch hineingehen und frühstücken«, meinte er. »Bis zum Mittag
werden wir keine Rast mehr machen.«
»Wir?« ,
fragte sie. »Du wolltest doch nicht
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