Love
ihnen kauert, am Arm. »Wie heißen Sie?«
Das Mädchen starrt sie an, als wäre sie übergeschnappt, be antwortet aber ihre Frage. »Lisa Lemke.«
Noch eine Lisa, kleine Welt, denkt Lisey, ohne es jedoch auszusprechen. Stattdessen sagt sie: »Mein Mann ist ange schossen worden, Lisa. Können Sie ins …« Sie kann sich nicht an den Namen des Gebäudes erinnern, nur an seine Funktion. »… in die Englischfakultät rüberlaufen und einen Krankenwa gen rufen? Wählen Sie den Notruf …«
»Ma’am? Mrs. Landon?« Das ist der stämmige Campus-Cop mit dem schaurig rihiesigen Aufnäher , der sich mit kräftigen Ellbogenstößen einen Weg durch die Menge bahnt. Seine Kniegelenke knacken, als er neben ihr in die Hocke geht. Lau ter als Blondies Pistole, denkt Lisey. Er hält ein Funkgerät in der Hand. Er spricht langsam und deutlich wie mit einem ver zweifelten Kind. »Ich habe unsere Krankenstation verständigt, Mrs. Landon. Sie schickt ihren Krankenwagen, der Ihren Mann ins Nashville Memorial bringt. Verstehen Sie mich?«
Das tut sie, und ihre Dankbarkeit (der Cop hat seine bis herigen Versäumnisse mehr als wettgemacht, findet Lisey) ist fast so tief wie das Mitleid, das sie für ihren Mann empfin det, der auf dem hitzeflimmernden Asphalt liegt und zittert wie ein Hund mit Staupe. Sie nickt und vergießt dabei die ersten von vielen Tränen, die sie noch weinen wird, bevor sie Scott wieder nach Maine zurückbringt – nicht mit Delta Air lines, sondern in einer Privatmaschine mit einer Kranken schwester an Bord, während vor dem Terminal auf dem Port-land Jetport ein Krankenwagen mit einer weiteren Pflegerin auf ihn wartet. Jetzt wendet sie sich wieder an die kleine Lemke und sagt: »Er verbrennt – gibt es hier irgendwo Eis, Schätzchen? Wissen Sie, wo es Eis geben könnte? Irgendwo in der Nähe?«
Das sagt sie ohne große Hoffnung, deshalb ist sie über rascht, als Lisa Lemke sofort nickt. »Gleich dort drüben gibt es ein Snack Center mit einem Cola-Automaten.« Sie deutet in Richtung Nelson Hall, die Lisey nicht sehen kann. Sehen kann sie nur einen Wald aus nackten Beinen, manche behaart, manche glatt, manche gebräunt, manche mit einem Sonnen brand. Sie erkennt, dass sie völlig eingeschlossen ist, dass sie ihren Mann auf einer kleinen freien Fläche in Form einer Vitaminpille oder Erkältungskapsel versorgt, und empfindet einen Anflug von Platzangst. Heißt der Ausdruck dafür Ago raphobie? Scott würde es wissen.
»Wenn Sie ihm etwas Eis holen können, dann tun Sie’s bitte«, sagt Lisey. »Und beeilen Sie sich!« Sie wendet sich an den uniformierten Sicherheitsbeamten, der Scotts Puls zu zählen scheint – eine völlig unsinnige Tätigkeit, wie Lisey findet. Im Augenblick geht es hier um Leben und Tod. »Können Sie dafür sorgen, dass die Leute ein bisschen zurücktreten?«, fragt sie. Fleht sie beinahe. »Es ist so heiß, und …«
Sie hat ihren Satz noch nicht beendet, da fährt er wie ein Schachtelteufel hoch und schreit: »Zurücktreten, Leute! Lasst dieses Mädchen durch! Tretet zurück, lasst das Mädchen durch! Seid vernünftig, Leute, lasst ihn atmen!«
Die Menge schlurft rückwärts … sehr zögerlich, wie es Lisey scheint. Anscheinend wollen sie nichts von dem Blut versäu men.
Die Gluthitze steigt vom Asphalt auf. Halb hat sie erwartet, sie würde sich daran gewöhnen, wie man sich an eine heiße Dusche gewöhnt, aber das passiert nicht. Sie horcht auf das Sirenengeheul des heranrasenden Krankenwagens und hört zunächst nichts. Dann hört sie es doch. Sie hört Scott ihren Namen sagen. Ihren Namen krächzen. Gleichzeitig streift sei ne zitternde Hand die Seite des durchgeschwitzten Tops, das sie trägt (unter der Seide zeichnet sich ihr BH jetzt ab wie eine geschwollene Tätowierung). Sie senkt den Blick und sieht etwas, was ihr überhaupt nicht gefällt: Scott lächelt. Das Blut hat seine Lippen von oben bis unten und von einer Seite bis zur anderen leuchtend rot gefärbt, sodass sein Lächeln mehr an ein Clownsgrinsen erinnert. Niemand liebt einen Clown um Mitternacht, denkt sie und fragt sich dann, wo das nun her gekommen sein mag. Erst in der vor ihr liegenden langen und überwiegend schlaflosen Nacht, in der sie darauf hor chen wird, wie scheinbar sämtliche Hunde von Nashville den orangeroten Augustmond ankläffen, wird ihr einfallen, dass dies das Epigramm von Scotts drittem Roman war, seinem einzigen Buch, das sie und die Kritiker verabscheuten – und das sie reich gemacht
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