Luegensommer
sie und hofft, er würde ihr eine Hand auf den Oberschenkel legen, was er auch prompt tut.
»Mit dir natürlich.«
Über die Handbremse hinweg küssen sie sich flüchtig. Seine Lippen schmecken nach Salz und Wodka.
Mehr kann sie nicht erwarten. Die einzig richtige Antwort, seine warme Hand, die auf ihrem Bein ruht. Während sie andächtig den Vollmond betrachten, wird der Mini geblitzt. Eine fest installierte Anlage, seit Jahren in Betrieb. Jans Hand wechselt vom Bein in ihren Nacken. »Mach dir nichts draus.«
Es ist stickig. Marit lässt das Fenster herunter und der frische Geruch von gemähtem Gras erfüllt den Wagen. Sie unterdrückt den Wunsch nach einer Aussprache, es wäre dumm, Jan nach so einem Abend auch noch mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Sie muss lernen, Geduld mit ihm zu haben, wenn er mal nicht so ruhig und zuvorkommend zu sein vermag, wie sie es gewohnt ist. Er hat getrunken. Sie sind beide müde.
»Wollen wir in der Laube übernachten?«, fragt sie, ermutigt durch die Kraft seiner Berührung. Es wäre schön, die Nacht zur Abwechslung mal nicht allein zu verbringen.
Die Antwort kommt wie ein Rückstoß und lautet nein. Keine Begründung, einfach nur nein. Als hätte er das Licht ausgeknipst.
Gut. Dann eben nicht.
Um Jan in der Wohnung seiner Mutter abzuliefern, müssen sie an der Eisfabrik vorbei. Nachts ist das Gelände hell erleuchtet, ein Sicherheitsdienst patrouilliert, meistens Herr Buschke mit seinem Schäferhund. Der Mann von Frau Buschke, ihrer Haushaltshilfe.
Marit bremst abrupt.
Die Fabrik ist groß, Herr Buschke kann nicht überall sein. Deshalb hat er die Schmiererei an der Seitenwand der Produktionshalle vermutlich noch gar nicht bemerkt:
»Mädchenmörder« steht da in ziemlich großen, roten Buchstaben, verbunden mit der ebenso sinnfreien Botschaft: »Go home.« Ein Stück abseits haben die Vandalen – wiederum der Koma-Klub, davon ist Marit überzeugt – noch zweimal etwas kleiner das Wort »Fuck« aufgesprüht, vermutlich, weil die Farbdose noch nicht leer war.
Marit zückt das Handy und ruft ihren Vater an.
Ein Unfall
Es war ein Unfall. Das hätte alles nie passieren dürfen. Ich wollte das nicht. Alles, was ich wollte, war ein wenig Spaß. Ich bin gar nicht so ein ernsthafter Typ, wie alle glauben, ich wollte die ganze Sache locker angehen. Wie konnte das alles nur so aus dem Ruder laufen? Ich wollte doch nicht, dass irgendjemand Schaden nimmt. Es ging doch nur ums Vögeln, verdammt, nicht um Liebe und schon gar nicht um Leben und Tod.
M arit kann es nicht glauben: Herr Prigge trägt noch denselben Trainingsanzug wie damals in der Grundschule, braun mit orangefarbenen Streifen, Marke Adidas. Ein Modell, das inzwischen vielleicht sogar wieder produziert wird, Retro-Schick. Was fehlt, ist die Trillerpfeife um seinen Hals. Ein Schlauch transportiert biergelben Urin in einen seitlich am Rollstuhl befestigten Beutel. Herr Prigge sitzend, in sich zusammengesunken, die Hände gefaltet. Sie kennt ihn nur als drahtigen kleinen Mann, der zwischen ihnen umherflitzte, Hilfestellung gab, wenn sie an den Geräten turnten, der seine Augen überall zu haben schien und ausgiebig von seiner Trillerpfeife Gebrauch machte, insbesondere wenn sie Völkerball spielten. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich auch nur eine Minute hinzusetzen. Und jetzt der Rollstuhl. Wenigstens die Pfeife hätten sie ihm doch lassen können, schießt es Marit durch den Kopf. Damit könnte er das Pflegepersonal umherscheuchen.
»Tja, alt werden ist nichts für Feiglinge«, sagt Herr Prigge klar und deutlich, als er Marits Blicke von der Tür her bemerkt und richtig deutet. Er klingt beinahe wie früher, winkt sie befehlsgewohnt herein, reicht ihr zur Begrüßung die Hand, nickt beim Klang ihres Namens.
Marit ist heilfroh, dass nicht nur der Trainingsanzug, sondern auch die Stimme und offenbar das Gros seiner Persönlichkeit die Jahre überdauert haben. Die Pflegerin, die sie mit quietschenden Sohlen über einen endlos langen Flur ins Zimmer ihres ehemaligen Sportlehrers mitnahm, meinte, er sei vergesslich, aber im Großen und Ganzen gut in Schuss. Das würde Marit nun, nachdem sie ihn gesehen hat, zwar so nicht unterschreiben, doch Herr Prigge ist ihre einzige Option, da Frau Lilie, die Freundin ihrer Oma, keinen Besuch empfängt. Und am Eingang fragen sie jeden, zu wem man will. Einfach so von Zimmer zu Zimmer schleichen und die alten Leute über Zoé aushorchen, ist nicht drin. Darauf war Marit
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