Luftkurmord
dröhnte in
ihren Ohren, und sie hatte nicht bemerkt, dass jemand die Tür geöffnet hatte
und ins Zimmer gekommen war.
»Was
willst du von mir?«, fragte sie und wandte den Blick von Hans ab.
»Deine
Freundin wollte dich besuchen kommen, Schatz.« Ihre Mutter hatte hinter dem
Besuch gestanden und schob ihn nun in ihr Zimmer. Erich setzte sich auf die
Bettkante.
»Mir
ist nicht gut, Mama.«
»Ach,
papperlapapp. Wenn ich den ganzen Tag allein in meinem Zimmer sitzen würde,
wäre mir auch nicht gut.« Sie nickte Hans lächelnd zu. »Sehr nett von dir, dass
du zum Spielen kommst.«
Hans
wandte den Kopf und strahlte, bis die Tür sich hinter Erichs Mutter geschlossen
hatte.
»Du
musst etwas für mich tun«, sagte sie ohne Übergang und setzte sich neben Erich
auf das Bett.
»Was?«
»Du
musst mir bei der Mathearbeit helfen. Du kannst rechnen. Ich nicht. Ich darf
nicht noch eine Fünf schreiben.«
»Die
Arbeit ist schon morgen. Wie willst du das schaffen?« Erich stand auf, ging zu
ihrem Schreibtisch und griff nach dem Buch. Sie hatte keine Lust, jetzt mit
Hans zu lernen. Sie hatte überhaupt keine Lust auf Hans. Seit dieser
Fünf-Minuten-Pause hatten sie so gut wie nicht mehr miteinander gesprochen.
Erich hatte versucht, die Sache zu vergessen. Sie war den anderen aus dem Weg
gegangen und hatte gedacht, dass das auch auf Gegenseitigkeit beruhte.
Zumindest in der Schule hatte sie auch Franz nicht mit Hans reden sehen.
Sie
selbst saß am liebsten in ihrem Zimmer zu Hause. Ihrer Mutter schien das sehr
recht zu sein. Immer mal wieder kam sie zu ihr, fragte, ob sie mit zum
Einkaufen gehen oder mit ihr einen Kuchen backen wollte. In den meisten Fällen
tat sie es, wenn sie glaubte, es damit ihrer Mutter recht zu machen. Ein
paarmal hatte sie darüber nachgedacht, ihr die Sache mit dem Jungen zu
erzählen. Ihre Schuld daran. Dann, wenn sie gemeinsam auf dem Sofa saßen und
ihren selbst gemachten Kuchen aßen, dachte sie manchmal, sie könne sich Mama
anvertrauen. Aber dann tat sie es doch nicht. Aus Angst vor der Strafe. Und aus
Angst davor, dass Mama dann nicht mehr mit ihr auf dem Sofa sitzen und
gemütlich Kuchen essen würde.
»Du
bist doch meine Freundin«, schmeichelte Hans.
»Hmm.«
»Oder
etwa nicht?«
Sie
zuckte mit den Schultern.
Der
freundliche Ausdruck verschwand aus Hans’ Gesicht. Sie blinzelte, senkte den
Kopf und strich dann mit der flachen Hand über die Bettdecke. »Auch egal.« Sie
streckte ihre Arme nach rechts und links aus, reckte sich und faltete dann die
Hände in ihrem Schoß. »Ich muss das nicht schaffen.« Sie sah Erich an.
»Aber
du hast doch gesagt, ich soll dir helfen.«
»Richtig«,
antwortete sie knapp.
»Hast
du denn deine Bücher dabei?«
»Nein.«
»Wie
sollen wir dann lernen?«
»Ich
habe nicht gesagt, dass wir lernen. Ich habe gesagt, du sollst mir helfen.«
Hans ließ sich nach hinten auf das Bett fallen und verschränkte die Arme hinter
ihrem Kopf. »Du wirst meine Mathearbeit schreiben.«
»Was?«
Erich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Das merken die doch.«
»Sie
werden dich nicht erwischen«, sagte Hans ruhig, rollte auf die Seite und
stützte ihren Kopf auf die Hand. »Weil du gut aufpassen wirst, dass sie dich
nicht erwischen. Weil es«, sie setzte sich mit Schwung auf, sprang auf die Füße
und fasste nach Erichs Arm, »viel schlimmer wäre, wenn sie erfahren würden,
dass du schuld bist an dem toten Jungen.« Sie ließ den Arm los. »Oder findest
du nicht?«
***
»Hier.« Judith
reichte mir einen Zettel mit der Telefonnummer, die sie für mich im Internet
recherchiert hatte. Sie war schon vor mir im Büro gewesen, und ich hatte den
Eindruck, dass ihr irgendetwas über die Leber gelaufen war. »Wozu brauchst du
sie?«
»Ich muss etwas
überprüfen.« Ich erhob mich von meinem Stuhl, beugte mich über den Schreibtisch
und nahm den Zettel an mich. »Danke«, murmelte ich, griff nach dem Hörer und
tippte die Zahlen ein. Wenn sie selbst nichts erzählen wollte, würde ich nicht
nachfragen, solange sie in dieser Stimmung war.
Judith hatte meine
Entschuldigung für mein unfaires Verhalten am Sonntagmorgen sofort angenommen.
Sie hatte einfach nur genickt, etwas von »jeder hat mal einen schlechten Tag«
gemurmelt und war dann sehr schnell zur Tagesordnung übergegangen.
Es klickte, dann
hörte ich ein Freizeichen.
»Diese Firma steht
als Adressat auf der Baugenehmigung, die wir bei Andrea gefunden haben, und ich
möchte nachhören, was sie zu der
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