Luftschlösser
den anderen trat, glitt seine Hand unmerklich an ihrer Wirbelsäule hinab. Gleichzeitig drückte er sie enger an seinen Körper. Wenn er sie schon einmal so nahe bei sich hatte, wollte er das Erlebnis voll und ganz auskosten. Zu seiner Verwunderung wich sie nicht zurück. Im Gegenteil - ihre eine Hand grub sich in sein Haar, die andere krallte sich auf seinem Rücken in sein Hemd. Ihr unregelmäßiger Atem strich warm über sein Ohrläppchen, während sie sich Wange an Wange im Takt wiegten. Sie schien diesen Tanz zu genießen, genau wie er. Diese Intimität fühlte sich so gut und richtig an...
Persephone hatte das Denken und Grübeln aufgegeben. Charlys Nähe, seine Wärme, die Musik... alles fühlte sich an wie in den unbeschwerten Tagen ihrer Kindheit. Ihr ganzer Körper schien zu vibrieren, und sie konnte nicht genug davon bekommen, ihn so dicht wie möglich bei sich zu spüren. Diese Erregung, das Verlangen nach einem anderen Menschen, war ihr bis zu diesem Abend vollkommen fremd gewesen.
Wenn er sie jetzt küsste, was würde dann passieren? Was konnte schon passieren? Er würde vielleicht die Ohrfeige seines Lebens kassieren. Eventuell auch zwei. Das wäre es ihm aber allemal wert. Vorsichtig löste Charles seine Wange von Persephones und schaute ihr in die Augen. Bevor er sich zu ihr beugte, ruhte sein Blick einen Moment lang auf ihrem Mund. Als seine Lippen ihre endlich berührten, fühlte er nichts als Hitze und Begehren. Er strich vorsichtig über die zarte Haut, fuhr mit seiner Zungenspitze darüber und bettelte stumm um Einlass. Persephone gab seinem Drängen mit einem leisen Keuchen nach. Charles’ Zunge glitt über die glatte Innenseite ihrer Unterlippe, weiter über ihre Zähne und tiefer in ihre Mundhöhle. Spätestens jetzt war die Zeit für eine schallende Ohrfeige gekommen, doch stattdessen tastete Persephones Zungespitze schüchtern nach seiner, um einen weiteren Tanz mit ihm aufzunehmen. Ihre mangelnde Erfahrung auf diesem Gebiet machte ihre Hingabe wieder wett. Sie neckte ihn, umschmeichelte ihn, erregte ihn mit jeder zarten Liebkosung weiter. Als er sich von ihr löste, geschah das nur, weil sein Herz so heftig schlug, dass ihm die Luft wegblieb. Doch noch bevor Charles etwas sagen konnte, lies Persephone ihn los, stieg von seinen Füßen und schoss wie eine überbrühte Katze in Richtung Wohnungstür davon. Unterwegs schnappte sie sich ihre Handtasche, dann war sie fort, die Tür fiel ins Schloss und Charles blieb ratlos zurück.
***
Edward deWinter hörte die Haustür, die schwerfällig zuklappte. Etwas schleifte müde über den Boden der Eingangshalle. Als er sich dem Geräusch zuwandte, sah er Persephone am Türrahmen der Wohnzimmertür lehnen. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend - zitternd, mit verheultem Gesicht und gebeugter Haltung.
„Hilf’ mir, Dad. Bitte hilf’ mir. Mir geht’s nicht gut”, brachte sie noch zustande, bevor ihre Knie unter ihr nachgaben und sie in sich zusammensackte.
Edward griff geistesgegenwärtig nach seinem Telefon, eilte auf seine Tochter zu und rief gleichzeitig den Notruf. Was, um Himmels Willen, war an diesem Abend mit seiner Persephone geschehen?
Teil 2
Lewis and Harris
„Einen Menschen lieben, heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“
Fjodor Dostojewski
1
Charles brauchte ein paar Minuten, um sich wieder zu fangen und zu begreifen, was sich da gerade abgespielt hatte. Auf der Haben-Seite ließ sich verbuchen, dass Sephi seinen Kuss erwidert hatte, freiwillig und sehr gefühlvoll. Die Soll-Seite wies dagegen einen Posten auf, der alles andere überwog: Sie war abgehauen. Getürmt. Geflohen. Weggerannt. Diesen entsetzten und zutiefst verunsicherten Gesichtsausdruck auf Persephones Gesicht würde er wahrscheinlich nie wieder vergessen. Dabei war er sich noch nicht einmal sicher, ob sie über ihn oder sich selbst so schockiert gewesen war. Sicher war nur, dass sie verstört das Weite gesucht hatte und dabei sogar ihre Schuhe vergessen hatte. Charles würde sie wieder einfangen müssen, seine Cinderella. Vielleicht genügte ja ein Griff zum Telefon. Heutzutage konnte man doch über alles offen reden.
„Die gewählte Nummer ist vorübergehend nicht zu erreichen.” Nichts anderes hatte er erwartet. Morgen eventuell, wenn sie den Schock verdaut hatte. Charles würde auf jeden Fall am Ball bleiben.
***
„Die gewählte Nummer ist vorübergehend nicht zu erreichen.” Schon wieder! Charles lief
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