Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 02 - Ein plötzlicher Tod
Sie musste nicht unaufhörlich ihre Tüchtigkeit beweisen, nicht einmal sich selbst gegenüber. Also galt es, die Ansprüche etwas herunterzuschrauben, das Leben eher auf sich zukommen zu lassen. Mit normalem Arbeitseinsatz kommt man weit genug, wenn nur das Herz dabei ist.
Aber jetzt war es das Geschrei, das an ihr zerrte, Klaras allzu großer Appetit aufs Leben. Das kleine Mädchen wuchs und gedieh, so weit war alles in bester Ordnung. Das Gewicht ging in gerader Kurve nach oben, die Schenkel sahen aus wie knackige Würstchen mit vielen Falten, die Augen funkelten, das Lachen gurgelte – wenn sie nicht gerade schrie. Dem Kind ging es gut, und ihr Bauch würde sich auch noch beruhigen, wenn die Zeit erst einmal reif dafür war.
Ich muss das einfach durchstehen, dachte Veronika mit einem Zittern. Ab jetzt war sie gezwungen, ihre Tochter tagsüber allein zu versorgen. Da drückte der Schuh. Die Aussicht darauf war keineswegs erfreulich, nachdem sie sich so daran gewöhnt hatten, zu dritt zu sein. Sie musste ihre Ansprüche wohl etwas herunterschrauben, minimale Anforderungen an alles, was nicht das Kind betraf, stellen. Vielleicht gar keine.
Ein Kind ist ein Kind.
Woran immer es auch lag, vielleicht daran, dass er nicht stillte, jedenfalls kam Claes besser mit Klara zurecht. Veronika hatte ihn unterschätzt. Claes hatte den ersten Kontakt mit Klara aufgenommen, er war derjenige von ihnen, der die Tochter zuerst im Arm hatte, sie an sich drückte, während Veronika noch in der Aufwachstation lag. Er war der Erste gewesen, und er wollte diese Position behalten. Ein Glück. Schließlich hatte sie ihre Rolle sowieso sicher, mit ihrer vollen Brust und dem Mutterschaftsurlaub.
Klara lebte. Die Tage nach dem Kaiserschnitt waren wie eine Achterbahn verlaufen. Erleichterung und wahnsinniges Glück – große, ängstliche Tränen. Die Gnade, diese große Gnade. Es war gut gegangen, unfassbar.
Sie überlegte, ob Claes im Kreißsaal eigentlich begriffen hatte, wie kritisch die Situation war. Sie hatte es gewusst, aber das hatte ihr nichts genützt. Eher im Gegenteil.
Als das Blut an ihren Schenkeln klebte, der Bauch sich in neuen, viel schlimmeren Schmerzen zusammenzog, da war ihr klar, was geschah. Ablatio placentae. Ablösung des Mutterkuchens. Ihre medizinischen Kenntnisse waren keinesfalls von Vorteil gewesen. Im Gegenteil, das machte die Sache nur noch schlimmer. Das Bett des Mutterkuchens, das sich von der Gebärmutterwand löste und so die Versorgung des Kindes durch die Nabelschnur unterbrach. Kein Sauerstoff, kein Leben. Dieses Wissen hatte sie gelähmt.
Claes’ Stimme hatte sie nach der Narkose wie durch Nebelwände erreicht. Die Zeit stand still, ihr war kaum bewusst, wo sie war. Oder warum. Sie war nicht in der Lage, die Augen zu öffnen und nachzuschauen. Wollte es nicht. Traute sich nicht. Sie lag mit schwer geschlossenen Augenlidern da und versteckte sich vor der Wirklichkeit.
Aber die Worte hatten sie erreicht.
»Alles ist gut gegangen. Ein hübsches Mädchen. Wir haben ein schönes Mädchen.«
Claes’ Stimme. Sie hatte keinen Laut hervorbringen können. Der Hals war rau und trocken, sie konnte nicht einmal vor Erleichterung heulen.
»Wie schön«, brachte sie schließlich heraus, gequält und rau, und sie versuchte, ein Lächeln und ein Nicken zu Stande zu bringen als Zeichen, dass sie verstanden hatte.
Zum Schluss bekam sie ein Augenlid auf, konnte Claes erkennen, der stolz wie Oskar dastand, voller Vaterglück, und ihre Hand vorsichtig drückte.
Dann schlief sie ein. In aller Ruhe.
Er – Vater!
Sie – Mutter!
Noch einmal. Ein neuer Mensch zum Lieben. Man kann viele Menschen lieben, manchmal die ganze Welt.
»Solches Kindergeschrei kann zu Kindesmisshandlung führen«, seufzte Veronika mit halb geschlossenen Augen im Bett an diesem Montagmorgen. »Das kann ganz vernünftige Eltern dazu bringen, ihren Spross durchs Fenster zu schmeißen«, erklärte sie und machte eine Pause. »Oder an die Wand zu knallen«, fügte sie hinzu und schielte auf die frisch tapezierte Schlafzimmerwand, konnte vor sich sehen, wie sie Klaras stämmige Beinchen hart mit beiden Händen packte, sie hinter sich warf, um Schwung zu holen, und sie dann mit voller Kraft gegen die helle Oberfläche schmetterte …
Da hatte es ein Ende, sie kniff die Augen zusammen, schluckte und zwang sich, den inneren Film abzuschalten.
Wie schrecklich! Mein Gott, welch ein Glück, dass sie niemals etwas so Grässliches machen
Weitere Kostenlose Bücher