Luzie & Leander - 04 - Verblüffend stürmisch
Schultern. »Ist doch immer so. Wenn einem Mädchen was passiert und es waren Jungs dabei, heißt es, sie hätten es beschützen sollen. Er will halt, dass ich ein anständiger Kerl werde. Dass kein einziger Türkenwitz auf mich zutrifft. Mann, der hat keine Ahnung, wie anstrengend das ist. Es gibt so viele Türkenwitze. Und weißt du, was der Oberwitz ist? Ich bin gar kein Türke. Ich hab ’nen deutschen Pass.« Serdan räusperte sich – sein Signalton für den Beginn einer Rede und auch für ihren Abschluss. Er ging auf Sendepause.
Ich aß mein Croissant auf und versuchte, mich ebenfalls an einen Heuballen zu lehnen, doch die Spitzen der Halme stachen in die offenen Stellen zwischen meinen Schulterblättern. Ich zuckte zurück und biss mir auf die Lippen, um nicht zu jammern. Serdan reagierte nicht. Er stierte immer noch finster vor sich hin. Ich senkte beschämt den Kopf. Ich selbst hatte eben ein Klischee heraufbeschworen, das er nicht genannt hatte. Nämlich dass Türken jedes Mädchen anmachen, das nicht bei drei auf den Bäumen ist. Oder Schlimmeres. Mama ließ auch manchmal solche Sprüche los. Was hatte sie neulich gesagt? Dass Serdan aus einem anderen Kulturkreis stamme und alleine deshalb frühreif wäre? Und sich alles nehme, was er wolle? Genau das hatte sich in meinem Kopf verankert. Sonst hätte ich nicht so bescheuert reagiert.
»Find schon, dass du ein anständiger Kerl bist«, nuschelte ich, ohne Serdan anzusehen. Wieder keine Reaktion. Das konnte ja ein gemütlicher Abend werden. Nun war ich endlich sicht- und hörbar und nicht mehr alleine, aber der einzige Mensch in meiner Nähe stellte auf Durchzug.
»Hey, ich kenne einen guten«, versuchte ich es weiter. »Der ist echt witzig. Also … Deutschunterricht in der Schule. Der Lehrer sagt zu Üzgür: ›Üzgür, bilde einen Aussagesatz.‹ ›Mein Vater hat voll krass Dönerladen.‹ ›Prima, Üzgür. Und jetzt bilde einen Fragesatz.‹ ›Mein Vater hat voll krass Dönerladen, weißt du?‹«
Serdans linker Mundwinkel zuckte. Doch noch immer sagte er nichts.
»Okay, ich hab einen anderen …«
»Nee, Katz, bitte nicht. Du kannst keine Witze erzählen. Ist schon gut.« Nun sah er mich wieder an und ich musste grinsen, weil es keinen Zweifel mehr gab, dass er eigentlich auch grinsen wollte. Gleichzeitig wurde ich rot, obwohl das bei meiner Gesichtsfarbe wahrscheinlich nicht mehr möglich war. Ich schnippte mit dem Finger gegen den Quark in seinen Händen.
»Der ist also gut gegen Sonnenbrand, ja?«
Serdan nickte. »Weiß ich von meiner Oma. Das war ihr Geheimrezept, wenn meine Schwester es übertrieben hatte in unseren Urlauben am Meer.« Er verzog die Mundwinkel und schob die Schultern in Angeberpose vor. »Türken können nämlisch auch krass Sonnenbrand kriegen, weißtu?« Oh, der war aber heute wirklich auf dem Klischeetrip.
»Falls sie mal aus ihrer Mülltonne herauskommen«, ergänzte ich ebenso bissig und lupfte die Träger von meinem Tanktop. »Autsch …« Ich ließ sofort wieder los. Sie klebten an meiner wunden Haut fest.
»Lass mal, ich mach das. Leg dich auf den Bauch.«
Ich ließ mich vorwärtskippen, bis ich platt wie eine Flunder auf dem Stroh ruhte, zu müde, um noch Angst zu haben oder zu protestieren. Ich wollte nicht wieder aufstehen, nicht vor morgen früh. Serdan löste vorsichtig den Rippenstoff meines Tops von meinen Schultern und schmierte die verbrannten Stellen dick mit Quark ein. Rasch leckte ich die Tränen ab, die vor Schmerz und Erleichterung aus meinen geschlossenen Augen rannen und sich in meinen Mundwinkeln sammelten. Doch Serdan musste gesehen haben, dass mein Gesicht nass war, als er meinen Kopf zur Seite drehte und auch meine Wangen, Nase und Stirn verarztete. Der Quark kühlte angenehm und eine wohlige Entspannung ließ mich tief aufseufzen.
Serdan streckte sich neben mir auf dem Heu aus und schaute durch die Lücken im Dach hinauf in den Nachthimmel. Ganz weit oben zog ein Flugzeug über uns hinweg. Ich konnte es brummen hören. Da ich wegen meiner Quarkpackung nicht auf dem Rücken liegen durfte, nahm ich meinen Kopf zur Seite, pustete einen Strohhalm von meiner Nase und blickte Serdan an. Um seinen Mund herum hatte sich ein dunkler Schatten gebildet. So einen starken Bartwuchs würde Leander wahrscheinlich niemals bekommen. Doch auch er würde sich irgendwann rasieren müssen. Vorausgesetzt, er durfte seinen Körper behalten. Denn wenn die Schwarze Brigade es problemlos schaffte, einen Menschen
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