Lynettes Erwachen
fiel, über unangenehme Dinge zu sprechen. Also wartete er geduldig, bis sie zu erzählen begann.
„An dem Tag, als mein Vater uns verließ, habe ich etwas gesehen. Meine Mutter lag gefesselt auf dem Schreibtisch meines Vaters, und er stieß wütend und fluchend in sie hinein. Da waren so viel Hass und Gewalt. Mein ganzes Leben lang hielt ich das für eine Vergewaltigung. Erst durch dich habe ich erfahren, dass meine Mutter es so wollte. Mein Vater entdeckte mich und ließ von ihr ab, Entsetzen im Gesicht. Und Mom schrie mich an, ich solle verschwinden. Mein Verstand weiß, dass du mir nichts tun wolltest, das Herz auch, doch mein Unterbewusstsein scheinbar nicht. Ich wollte dir keine Angst machen, Elias. Als ich merkte, dass etwas nicht stimmt, war es schon zu spät. Es tut mir leid.“
Elias hielt sie fest an sich gedrückt. Er konnte nichts sagen, unterdrückte Tränen schnürten ihm die Kehle zu. Minuten später hörte er den gleichmäßigen Atem. Unter dem Einfluss des Beruhigungsmittels war sie erneut eingeschlafen. Behutsam löste er sich von ihr und ging ins Bad. Mit zitternden Händen schüttete er sich kaltes Wasser ins Gesicht.
Schmerz war Lynettes erste klare Empfindung, als sie aus der Welt der Träume in die Realität glitt. Reglos verharrte sie und lauschte in sich hinein. Der Körper fühlte sich zerschlagen an, als wäre sie die ganze Nacht gefesselt gewesen. Ihr Innerstes war wund, als hätte ein wildes Tier ihr die Eingeweide zerfetzt und sie anschließend sich selbst überlassen. Lynette kannte diesen Schmerz – der ständige Begleiter ihrer Jugend. Im Laufe der Jahre war dieser zu einem dumpfen Pochen in einsamen Nächten abgeklungen, bis er sich von einem Moment zum nächsten in Luft auflöste.
Elias!
Das zerfetzte Herz krampfte sich zusammen. Übelkeit stieg in ihr auf. Als sie aus dem Bett steigen wollte, konnte sie sich nicht bewegen. Mit festem Griff hielt sie etwas gefangen.
„Wo willst du hin?“, hörte sie eine leise, erschöpfte Stimme hinter sich.
„Ich muss dringend ins Bad.“
Woher sie die Kraft zu sprechen nahm, wusste sie nicht. Elias hob den Arm und gab sie frei. Lynette stürzte ins Badezimmer. Würgend übergab sie sich. Leider hatte sie nichts im Magen, und die Krämpfe schüttelten den ganzen Körper durch. Erschöpft hockte sie minutenlang schluchzend auf dem Boden. Mühsam kam sie auf die Beine und schüttete sich kaltes Wasser ins Gesicht. Gerötete Augen blickten ihr unendlich traurig entgegen, als sie sich im Spiegel betrachtete. Sie hasste diesen Anblick, hasste sich selbst und ihr Versagen.
Plötzlich schnürte sich ihr krampfhaft der Brustkorb zusammen. Luft holen wurde zur Qual. Panisch riss sie das Fenster im Bad auf und atmete die kühle Morgenluft tief in die Lungen. Zwei, drei Atemzüge lang, starrte sie ins Leere, bevor sie die Aussicht bewusst wahrnahm. Glitzernd und sanft murmelnd lag die Unendlichkeit vor ihr: der Atlantik! Für ein paar Sekunden vergaß sie das Elend in ihrem Inneren. Magisch von dieser Weite angezogen, hatte sie nur noch einen Gedanken: Ich muss hier raus.
Leise huschte Lynette ins Ankleidezimmer, zog Sportsachen an, nahm die Laufschuhe und wollte sich aus dem Zimmer schleichen, als sie Elias auf dem Bett liegen sah. Er hatte sich die Decke rangezogen und umarmte diese, wie kurz zuvor ihren Körper. Der Atem ging ruhig und gleichmäßig. Hatte er sie die ganze Nacht im Arm gehalten und über ihren Schlaf gewacht?
Auf dem kleinen Tisch am Fenster stand eine halb leere Karaffe mit einer goldenen Flüssigkeit darin. Oder hatte er sich betrunken, weil ihm gestern bewusst geworden war, dass sie nichts weiter als ein Freak war?
Sie spürte die Tränen kommen und flüchtete vor Elias und der Erinnerung an gestern Abend.
„Lynette?“
Kurz bevor sie die Haustür erreichte, hielt sie inne. Verdammt! Ausgerechnet Charlotte musste ihr begegnen.
„Guten Morgen“, presste Lynette hervor, ohne sich umzudrehen.
„Willst du Laufen gehen?“
Lynette nickte, eine einzelne Träne lief ihr über die Wange.
Plötzlich stand Charlotte neben ihr. „Darf ich dich begleiten?“
Aus einem ihr nicht ersichtlichen Grund beruhigte es Lynette, nicht allein zu sein. Charlotte öffnete die Tür und schenkte ihr ein Lächeln.
„Na, dann komm. Ich kenne einen wunderbaren Weg durch den Wald, direkt am Meer entlang.“
Mit jedem Meter, den sie schweigend nebeneinander liefen, klärten sich Lynettes Gedanken. Sie achtete auf die Atmung
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