Macabros 023: Gefangen im Totenmaar
auf… eine halbe Stunde war vergangen…
ich erhob mich, als sei nichts gewesen. Ich verließ den Park,
ohne mich noch mal sehen zu lassen. Das war das beste in dieser
Situation. Mit dem Zug fuhr ich im Morgengrauen nach Hause. Ich
fühlte mich krank und elend und bat Karla, das ist meine treue
Seele, die hier für Essen, Trinken und Ordnung sorgt, niemand zu
mir zu lassen, jedem zu sagen, daß ich nicht da wäre. Aber
vielleicht war das falsch… nein«, verbesserte er sich
sofort selbst, »es war sicher falsch… Ich hätte schon
lange reden sollen… aber wer hätte mir geglaubt? Sie sind
der Richtige… Ich bin Geologe… zuletzt hielt ich mich auf
Neuseeland auf… dort erforschte ich vulkanisches Gestein…
durch irgendeinen unerklärlichen Zufall wurde ich
bewußtlos… als ich wieder zu mir kam, hatte sich die Welt
um mich herum verändert… ich war woanders, in einer
fremden, unfaßbaren Umgebung. Ich kam mir vor wie auf einem
anderen Stern.« Seine Stimme wurde leiser. Das viele Sprechen
strengte ihn offensichtlich an. »Ich muß dem noch
vorausschicken… von Beruf bin ich Geologe. Aber ich habe ein
Hobby besonderer Art: ich erforsche in meiner Freizeit die Gesetze
der Mathematik und die Zusammenhänge zwischen Raum und
Zeit… vielleicht kann man diese Beschäftigung mit
dafür verantwortlich machen, daß ausgerechnet ich mit
Dingen konfrontiert wurde, die…« Wieder unterbrach er sich
selbst und berichtigte sich auch, »aber nein, das ist sicher
unsinnig… all die Menschen, die ich dort sah, die ebenfalls wie
ich durch diesen ’Spalt’ gerutscht und in einer anderen
Welt angekommen waren, hatten sich sicher nicht mit der
Relativitätstheorie und er Erforschung der Zusammenhänge
zwischen Raum und Zeit im besonderen gewidmet… es war ein
Zufall, daß ich Gewißheit erhielt über ein
Phänomen, das bisher nur theoretisch für mich
existierte… Es gibt es wirklich… jenes parallele Universum,
Herr Hellmark… ich war dort… Raum und Zeit bilden eine
Einheit. Man muß sie sich vorstellen wie eine Kuppel, die uns
schützend umhüllt. Aber es kann zu einem Riß in
dieser Kuppel kommen – gewollt oder ungewollt – und dann
passiert es, daß Menschen von dieser Seite des Raums und der
Zeit in eine andere stürzen. Von dort kehren sie nicht mehr
zurück. Sie werden in einem zeitlosen Totenmaar festgehalten.
Dort stirbt jede Bewegung…«
Er lag tief in den Kissen. Seine Haut wurde durchscheinend wie
altes, brüchiges Pergament, seine Augenlider zitterten.
»Die Zeit bewegt sich nicht… und die Menschen leben,
können nichts an ihrem Schicksal ändern…« fuhr er
flüsternd fort.
»Wie kamen sie frei?« Macabros ließ sich seine
Erregung nicht anmerken. Das leise Geräusch hinter ihm nahm er
nur beiläufig wahr. Rolf Burghardt kam zu sich und wurde Zeuge
des letzten Teils dieser eigenartigen Unterhaltung.
»Ein Zufall. Aber vielleicht… kann man diesen Zufall
bewußt herbeiführen und damit alle diejenigen retten,
die…«
Da fing es wieder an.
Schweiß brach ihm aus allen Poren, er begann zu zittern wie
ein alter Mann, die Zähne schlugen ihm aufeinander.
»Der Spalt… war damals in Neuseeland…« keuchte
er, als würde ein Zentnergewicht auf seine Brust drücken.
»Aber es handelt sich um keinen feststehenden Punkt… er ist
verschiebbar… warum, weiß ich nicht… sie wollen mich
zurückholen, in das Maar… wo der Wind steht und das Licht
sich nie verändert und man mit seinen Gedanken allein
ist…« Er schweifte ab, Macabros war es nicht möglich,
ihn auf seine gezielt gestellte Frage einzustimmen.
Wie ein Träumender, Berauschter lag Czernin in seinem Bett.
Sein Körper flatterte und wurde seltsam durchscheinend. Die
Atome seines Körpers lockerten sich wieder.
Aus endloser Ferne drang ein leiser, kaum wahrnehmbarer Schrei an
Macabros’ Gehör.
In der ersten Sekunde glaubte er, aus Czernins Kehle käme
dieser Laut.
Doch dann erkannte er: Der Schrei kam von draußen und wurde
vom Wind durch die weit offenstehende Balkontür getragen.
Dieses klägliche Wimmern kam von einem Menschen, der sich in
höchster Bedrängnis befand.
Da schrie jemand um Hilfe!
Macabros wirbelte herum und lief auf den Balkon hinaus.
Den leisen, fernen Schrei – über den dunklen See, der
wie eine gigantische, tintenschwarze Pfütze vor ihm lag –
trug der Wind herüber.
Seine scharfen Augen nahmen das auf und ab tanzende Positionslicht
eines Bootes wahr.
»Der Spalt!« schrie im gleichen Augenblick
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