Macht: Thriller (German Edition)

verlieren, dafür genügten Ameise und Fadenwurm. Er verstand jetzt den Antrieb hinter Mitterlechners Begeisterung für beide Themenkreise. Sie kostete ihn nicht den Verstand, aber das Leben. »Was heißt das, wollen Sie uns aufrüsten? Tunen? Oder bauen Sie auf die entfesselte Kraft der Schwarmintelligenz beim Menschen? Sorry, es gibt meines Wissens kein Säugetier, dass in Schwärmen lebt.«
    »Da irren Sie sich, Oberleutnant Szombathy. Es gibt eines, den Nacktmull. Hässliche kleine Viecher.« Steuben legte die Hände ineinander. »Schon Charles Darwin betrachtete die Ameise als das wohl bemerkenswerteste Geschöpf unseres Planeten.«
    »Hahaha!« Udo blickte von Gernot zu Steuben und schluckte. Er bekam ein Gefühl dafür, wohin sich das Gespräch entwickeln konnte. Und die Richtung behagte ihm gar nicht, das Rad der Inkarnationen geriet dabei in Schieflage. »Sagen Sie, was halten Sie von den Theorien zum 11. September? Und der ordensinternen Zeitrechnung?« Er hüstelte und führte die Finger zum Mund. »Was bedeutet 322?«
    Doktor Steuben verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und ließ den Kopf hängen. »Unangenehm, nicht?« Er lachte in sich hinein. »Der Orden der Perfektibilisten begann seinen Kalender mit dem Jahr 632 nach unserer Zeitrechnung. Mit dem Ende der Antike und dem Beginn der islamischen Expansion. Die Mitglieder von Skull & Bones sind fast ausnahmslos weiße Protestanten. Beantwortet das Ihre Frage?« Steuben schritt zu der Bank und nahm Platz. »Das Chapter 322 hat seine heilige Zahl natürlich auch als Reminiszenz auf die 23 der Illuminaten gewählt. Errechnen Sie die Quersumme, kommen Sie auf Sieben. Die als nächstes gegründete Loge in Dresden trug die Nummer Acht. Yale ist die Sieben, Dresden die Acht. Wo sich die Logen Zwei bis Sechs verborgen halten, weiß ich nicht. Bei dreien tippe ich auf München, Berlin und Wien. Die Eins ist ja wohl klar, hoffe ich.«
    »Ingolstadt.« Gernot fläzte sich neben Steuben.
    Der Doktor applaudierte zynisch. »Der Kalender der Bonesmen beginnt im Jahr 322 vor unserer Zeitrechnung, aber das wissen Sie ja bereits. Es ist dies das Jahr, in dem der griechische Redner Demosthenes Selbstmord beging. Jener Politiker, dem noch Jahrhunderte später die Römer Cicero und Plutarch Respekt zollten. Der Name Demosthenes bedeutet, die Stärke des Volkes .« Steuben setzte eine Pause, um die verborgene Bedeutung des Namens bei seinen Zuhörern sickern zu lassen. »Im Moment des Todes von Demosthenes soll sich die Göttin der Redekunst aus seiner Seele befreit haben. Die Göttin Eulogia wird von Skull & Bones verehrt.«
    »Otto Weininger!«, entfuhr es Szombathy. Josephine hatte mit allem Recht gehabt, der Mörder hatte mit der Ermordung Gabriels den Selbstmord Weiningers nachgestellt. Und Otto Weininger den Freitod des Demosthenes. Der verrückte Philosoph wollte am Sterbeort eines Genies, Beethovens letzter Wohnung, den reinen Teil seiner Seele vom verdorbenen loslösen. Der Spinner hatte wohl gedacht, dass ihm ein Gott entfährt. Darum legten Bonesmen Totenkopfringe auf das Grab im Evangelischen Friedhof auf dem Matzleinsdorfer Platz.
    »Ausgezeichnet«, freute sich Steuben. »Sie brauchen mich jetzt nicht mehr.«

85
    D oktor Steuben streckte sich und tätschelte die Flanke eines der beiden Steinlöwen, die den Eingang zum Chinesischen Garten bewachten. Das monströse Tier symbolisierte den Sohn des Himmels, den Kaiser, der die Weltkugel in der Pranke hielt. Das andere Tier schirmte ein Junges, die Kaiserin mit dem Thronfolger, Sinnbild der Kontinuität der Herrschaft der Himmelssöhne über den Kosmos. Steuben kicherte, wie leichtgläubig die Menschen doch waren. Der Doktor schritt beschwingt aus und genoss das Rauschen in den Bäumen des Bethmannparks. Die in seinen Augen süßeste Musik von allen, der Klang des ewigen Kreislaufs der Natur. Er kniff die Augen zusammen und blieb stehen. Drei Männer in schwarzen Anzügen kamen ihm entgegen. Doktor Steuben nahm die Brille ab und fluchte leise. Er fuhr herum. Drei weitere Anzüge hinter ihm. Steuben rannte querfeldein über die Wiese.
    Alle sechs Männer zuckten zusammen. Sie drehten die Köpfe nach dem Flüchtenden und nahmen aus dem Stand die Verfolgung auf.
    Steuben nahm so schnell Reißaus, wie er nur konnte. Er sprang über Rabatten und hechtete durch Büsche und Hecken. Äste schnalzten ihm ins Gesicht, aber das kümmerte ihn nicht. Er wusste, wer ihm auf den Fersen war.
    Die Anzüge brachen aufrecht aus