Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Lust.
Ein metallisches Röcheln schwang durch die Lüfte, und vier Schläge tönten von der Klosteruhr. Erst vier! und ihr war, als säße sie auf dieser Bank seit einer Ewigkeit.«
Man darf nicht am Ende eines Buches etwas suchen, mit dem man erklären will, was am Ende eines anderen Buches steht. Ich habe die inkriminierte Stelle gelesen, ohne ein Wort anzufügen, um ein Werk zu verteidigen, das sich von alleine verteidigt. Fahren wir mit der Lektüre dieser Stelle fort, die unter dem Gesichtspunkt der Moral inkriminiert ist:
»Madame war auf ihrem Zimmer. Niemand durfte herein. Sie verbrachte hier den ganzen Tag, träge, kaum bekleidet und brannte orientalisches Räucherwerk, das sie in Rouen gekauft hatte, im Laden eines Algeriers. Um nachts diesen schlafenden Mann nicht länger dicht an ihrem Körper liegen zu haben, verscheuchte sie ihn schließlich, durch ihre ständig angewiderte Miene, in den zweiten Stock; und sie las bis frühmorgens extravagante Bücher, in denen sich orgiastische Bilder mit blutrünstigen Szenen mischten.« Das macht Lust auf Ehebruch, nicht wahr? »Oft packte sie Grausen, ihr entfuhr ein Schrei, Charles kam gelaufen. ›Ah, verschwinde!‹ sagte sie; und dann wieder, noch heftiger entflammt von jener inneren Glut, die der Ehebruch schürte, riss sie ihr Fenster auf, keuchend, erregt, voll Begierde, atmete die kalte Luft, schüttelte im Wind ihr allzu schweres Haar und wünschte sich, zu den Sternen emporblickend, die Liebe eines Prinzen. Sie dachte an ihn, an Léon. Sie hätte alles gegeben für ein einziges dieser Rendezvous, die sie sättigten.
Das waren ihre Festtage. Glanzvoll mussten sie sein! und wenn er die Auslagen nicht allein zahlen konnte, übernahm sie bereitwillig den Fehlbetrag, was praktisch jedesmal passierte. Er versuchte ihr klarzumachen, dass sie anderswo genausogut aufgehoben wären, in einem bescheideneren Hotel; sie jedoch hatte Einwände.«
Sie sehen, wie einfach das alles ist, wenn man alles liest; aber mit den Ausschnitten des Herrn Staatsanwalts wird das kleinste Wort zu einem Berg.
DER HERR STAATSANWALT: Ich habe keinen dieser Sätze zitiert, da Sie aber welche zitieren wollen, die ich keineswegs inkriminiert habe, hätten Sie die Seite 50 nicht überspringen dürfen.
RECHTSANWALT SENARD: Ich lasse nichts aus, ich erinnere an die in der Vorladung inkriminierten Seiten. Wir sind vorgeladen wegen der Seiten 77 und 78.
DER HERR STAATSANWALT: Ich spreche von den während der Verhandlung vorgetragenen Zitaten, und ich glaubte, Sie behaupteten, ich hätte die Zeilen zitiert, die Sie soeben vorgelesen haben.
RECHTSANWALT SENARD: Herr Staatsanwalt, ich habe alle Stellen zitiert, mittels derer Sie ein Vergehen belegen wollten, das nun zusammengebrochen ist. Sie haben während der Verhandlung vorgeführt, was Ihnen beliebte, und Sie hatten leichtes Spiel. Zum Glück hatten wir das Buch, der Verteidiger kannte das Buch; hätte er es nicht gekannt, wäre er in einer sehr merkwürdigen Lage gewesen, gestatten Sie mir, Ihnen das zu sagen. Ich bin aufgefordert, mich über diese oder jene Stellen zu äußern, und in der Verhandlung ersetzt man sie durch andere Stellen. Würde ich das Buch nicht so gut kennen, wie ich es kenne, wäre die Verteidigung schwierig geworden. Jetzt zeige ich Ihnen durch eine getreue Analyse, dass der Roman, weit davon entfernt, als lasziv dargestellt werden zu dürfen, ganz im Gegenteil als ein zutiefst moralisches Werk betrachtet werden muss. Nachdem ich dies getan habe, nehme ich die Stellen, die Anlass waren für die Vorladung vors Strafgericht, und nachdem ich Ihren Ausschnitten das Davor und das Danach angefügt habe, ist die Anklage so schwach, dass diese sogar Sie selbst empört, während ich vorlese! Dieselben Stellen, die Sie vor einem Augenblick als strafwürdig anführten, darf ich wohl selber zitieren, um Ihnen die Nichtigkeit Ihrer Anklage vor Augen zu führen.
Ich nehme mein Zitat da wieder auf, wo ich stehengeblieben bin, Seite 78 unten:
»Er (Léon) langweilte sich jetzt, wenn Emma plötzlich schluchzte an seiner Brust; und sein Herz, so wie Menschen, die nur ein gewisses Quantum Musik vertragen, entschlummerte gleichgültig im Getöse einer Liebe, deren Raffinements es nicht mehr erreichten.
Sie kannten einander zu gut und vermochten nicht länger jenes Staunen zu empfinden, das die Lust des Besitzens verhundertfacht. Sie war seiner so überdrüssig wie er ihrer müde. Emma fand im Ehebruch von neuem alle Schalheit der
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