Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
der dich liebt! Erkennst du mich? Schau, hier ist dein Töchterchen: küss sie doch!«
Das Kind streckte die Arme nach der Mutter und wollte sich ihr an den Hals hängen. Doch Emma drehte den Kopf weg und sagte mit abgehackter Stimme:
»Nein, nein … niemand!«
Abermals wurde sie ohnmächtig. Man trug sie aufs Bett.
Sie blieb ausgestreckt liegen, den Mund offen, die Lider geschlossen, die Hände flach neben sich, reglos und weiß wie eine Wachsstatue. Aus beiden Augen rann ein Strom von Tränen, die langsam auf das Kissen tropften.
Charles stand hinten im Alkoven, und der Apotheker neben ihm bewahrte jenes grüblerische Schweigen, das sich geziemt in ernsten Lebenslagen.
»Seien Sie unbesorgt«, sagte er und stieß ihn mit dem Ellbogen, »ich glaube, der Paroxysmus ist vorbei.«
»Ja, sie braucht jetzt ein wenig Ruhe!« antwortete Charles, der ihr beim Schlafen zusah. »Arme Frau! … arme Frau! … ein herber Rückfall!«
Da fragte Homais, wie es zu dieser Malaise gekommen sei. Charles erwiderte, es habe sie ganz plötzlich gepackt, beim Essen von Aprikosen.
»Erstaunlich! …« meinte der Apotheker. »Doch ist es gut möglich, dass die Aprikosen diese Ohnmacht bewirkt haben! Es gibt Naturen, die bei gewissen Düften sehr empfindlich reagieren! und das wäre sogar eine Frage, die zu studieren lohnt, sowohl unter pathologischem wie unter physiologischem Gesichtspunkt. Die Pfaffen wissen um die Bedeutung dieser Sache, denn sie haben immer schon aromatische Substanzen verwendet bei ihren Zeremonien. Um den Verstand zu benebeln und Ekstasen hervorzurufen, was übrigens leicht ist bei Personen des schwachen Geschlechts, die anfälliger sind als unsereiner. Es soll welche geben, die werden ohnmächtig beim Geruch von verbranntem Horn, von frischem Brot …«
»Vorsicht, sonst wacht sie auf!« sagte Bovary leise.
»Und nicht allein«, fuhr der Pharmazeut fort, »Menschen zeigen diese Anomalien, sondern auch Tiere. Sie wissen doch sicher, welch ungemein aphrodisische Wirkung Nepeta cataria , im Volksmund Katzenkraut genannt, bei Feliden entfaltet; und andererseits, um ein Beispiel zu geben, für dessen Zuverlässigkeit ich mich verbürge, besitzt Bridoux (ein ehemaliger Studienkollege, heutzutage in der Rue Malpalu niedergelassen) einen Hund, der von Krämpfen geschüttelt wird, sobald man ihm eine Tabaksdose unter die Nase hält. Oft sogar ergötzt er mit diesem Experiment Freunde auf seinem kleinen Landsitz in Bois-Guillaume. Sollte man glauben, dass ein simples Niesmittel solche Verheerungen anrichtet im Organismus eines Vierbeiners? Das ist höchst merkwürdig, stimmt’s oder nicht?«
»Ja«, sagte Charles, der nicht zuhörte.
»Das beweist uns«, sprach der andere weiter und lächelte voll gutmütiger Selbstgefälligkeit, »die zahllosen Irregularitäten des Nervensystems. Und was Madame betrifft, so schien sie mir immer, ich muss es gestehen, eine überaus zartbesaitete Natur. Darum würde ich Ihnen, mein guter Freund, zu keinem der vorgeblichen Heilmittel raten, welche unter dem Vorwand, gegen die Symptome vorzugehen, gegen das Gemüt vorgehen. Nein, keine unnützen Medikamente! Diät, das genügt! Nur Beruhigendes, Lösendes, Milderndes. Und: glauben Sie nicht, dass man vielleicht auf die Phantasie einwirken müsste?«
»Womit? wie?« sagte Bovary.
»Ah! Das ist die Frage! Das ist allerdings die Frage: That is the question! wie ich unlängst in der Zeitung las.«
Doch Emma erwachte und schrie:
»Und der Brief? Und der Brief?«
Man glaubte, sie rede im Fieberwahn; ab Mitternacht tat sie es wirklich: eine Gehirnentzündung war ausgebrochen.
Dreiundvierzig Tage lang wich Charles nicht von ihrer Seite. Er ließ seine Patienten im Stich; er ging nicht mehr schlafen, ständig fühlte er ihr den Puls, machte Senfpflaster, kalte Wickel. Er schickte Justin bis nach Neufchâtel Eis holen; das Eis schmolz unterwegs; er schickte ihn wieder. Er zog Monsieur Canivet zu Rate; er ließ aus Rouen Doktor Larivière kommen, seinen einstigen Lehrer; er war verzweifelt. Am meisten ängstigte ihn Emmas Betäubung; denn sie sprach nicht, hörte nicht und hatte anscheinend nicht einmal Schmerzen – als erholten sich Körper und Seele gemeinsam von all der Erregung.
Gegen Mitte Oktober konnte sie in ihrem Bett aufrecht sitzen, mit Kissen im Rücken. Charles weinte beim Zuschauen, als sie ihr erstes Marmeladenbrot aß. Sie kam wieder zu Kräften; nachmittags blieb sie ein paar Stunden auf, und einmal, als es ihr etwas
Weitere Kostenlose Bücher