Madonna
Gasse dahinter. Hier war es weitaus dunkler als auf der vom Mond beschienenen Hauptstraße, und so tastete sich Richard vorsichtig voran. Seine Hand lag auf dem Griff seines Schwertes. Weit musste er nicht gehen. Die Gasse führte um eine Biegung und endete vor einer Mauer, wo Hühnerställe aufgetürmt waren. Kein einziges Fenster wies von den umliegenden Häusern auf diesen finsteren Ort hinaus.
Vor der Mauer stand eine Gestalt. Sie kehrte ihm den Rücken zu, aber dennoch erkannte er, dass es sich um eine hagere Frau handelte, vielleicht ein Marktweib. Sie schwankte, und als er sie ansprechen wollte, wandte sie sich zu ihm um.
Ihm versagten fast die Knie.
Wie von einer unsichtbaren Hand herangezerrt, ruckte die Umgebung auf ihn zu. Die gesamte Welt schien zu einem Punkt zusammenzustürzen und dieser auf ihn zuzurasen. In seinem Zentrum befand sich die Frau. Und das viele Blut. In einem furchtbaren dunklen Schwall brach es aus der Wunde am Hals der Frau hervor, besudelte ihre Brust, ihren Leib, den Boden. Dann bemerkte Richard das Messer, das die Frau in der Hand hielt. Er sah sie taumeln, sie machte einen Schritt auf ihn zu, ihr Atem war ein tonloses Gurgeln. Aus weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an, und hilfesuchend streckte sie die Arme nach ihm aus. Er sprang vor. Wieder geriet die Welt aus den Angeln, doch es gelang ihm, die Frau aufzufangen. Beiläufig nur bemerkte er, dass er sich dabei über und über mit ihrem Blut besudelte. In seinen Armen brach die Frau zusammen. Richard ließ sie zu Boden gleiten.
Einen Moment stand er da, kämpfte den Schwindel nieder. Verdammt, was war nur los mit ihm? Er schob das Schwert auf seiner Hüfte nach hinten, und gerade, als er sich über die Frau beugen wollte, um nachzusehen, ob er ihr noch irgendwie helfen konnte, fuhr ein Schatten von der Seite her auf ihn nieder. Er wollte ausweichen, der Schwindel in seinem Kopf vervielfachte sich, dann wurde er von den Füßen gerissen. Hart prallte er mit dem Rücken auf dem Boden auf. Er glaubte, einen Körper auf sich zu spüren, Knie, die sich in seinen Brustkorb pressten, glühende Klauen, die sich in sein Fleisch gruben. Er wusste, dass er den Schwertgriff noch immer in der Hand hielt, aber er konnte ihn nicht mehr spüren, denn jetzt griff eine Ohnmacht nach ihm, und ihm wurde pechschwarz vor Augen. Während ihm das Bewusstsein entglitt, verschwand das Gewicht von seiner Brust.
Etwas grub sich glühend heiß in seine Schulter.
Danach war nur noch Finsternis.
12. Kapitel
Es war stockfinster, als Bürgermeister Gernot Silberschläger aus einem unruhigen Schlummer erwachte, in dem ihn wirre Träume von jungen Frauen, nackter Haut und ziemlich vielen Fesseln und Ketten geplagt hatten. Mit offenen Augen lag er in der Finsternis und lauschte auf die Geräusche im Haus. Eine seiner Dienstmägde schien noch wach zu sein, er glaubte, ihren leichten Schritt in dem Stockwerk über dem seinen zu hören. Und durch die geschlossenen Fensterläden drang das Mitternachtsläuten von St. Sebald ins Zimmer.
Silberschläger seufzte. Der starke Schlaftrunk aus heißem Branntwein, den er kurz vor dem Zubettgehen zu sich genommen hatte, um seine aufgewühlten Gedanken zu beruhigen, war völlig nutzlos gewesen. Alles, was er ihm eingebracht hatte, waren Magenschmerzen und ein unangenehmes saures Aufstoßen.
Mit einem leisen Fluch setzte Silberschläger sich auf.
Es war kein Wunder, dass er nicht zur Ruhe kam – nach all dem, was ihm an diesem Tag widerfahren war. Da war zunächst die Leiche dieses Spitalmeisters gewesen. Silberschläger würgte es jetzt noch, wenn er an all das Blut dachte. Sein vom Branntwein verdorbener Magen wollte sich umdrehen.
Gewöhnlich mochte er seine Arbeit. Als Lochschöffe war er dafür zuständig, sich der Verbrechen anzunehmen, die auf dem Stadtgebiet begangen wurden. Er musste die Täter finden und sie der weltlichen Gerechtigkeit des Nürnberger Stadtrichters übergeben. Er mochte die Macht, die ihm dieses Amt verlieh. Indem er an den richtigen Stellen Druck ausübte oder auch einmal ein Auge zudrückte, hatte er einige wirklich nennenswerte Vorteile errungen, von denen dieses neue Haus hier in der Tuchgasse der größte und angenehmste war.
Die Glocken von St. Sebald verstummten.
Still lag Silberschläger da, lauschte in seinen gluckernden Leib hinein und schüttelte dann den Kopf. »Ach, Richhild!«, seufzte er und tastetezu der anderen Seite des Bettes. Seine Hand griff ins Leere. Natürlich!
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