Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Wohnhaus von vorn zu betreten. Sie tat das nicht etwa, weil sie befürchtete, dass jemand denken könne, zwischen ihr und Mitch liefe etwas. Und sie tat es auch nicht, weil sie Angst hatte, jemand könne feststellen, dass sie weiter an dem Fall arbeitete. Sie tat es, weil sie das Gefühl nicht loswurde, dass ihr jemand auf den Fersen war. Jemand aus der Internen. Oder einer der Ganoven, die für Ty Craig arbeiteten. Oder ein Irrer mit einer Schere.
Dani lief die Treppe hinauf und klopfte an Mitchs Wohnungstür. Als er ihr öffnete, fragte sie: »Du hast etwas gefunden?«
Er betrachtete sie. »Bekomme ich erst einen Kuss?«
»Wie bitte?«
»Einen Kuss. Diese Sache, mit der wir nach viel zu langen Jahren gerade wieder begonnen haben –«
»Hör auf«, schalt sie, doch ihren Worten fehlte der Nachdruck. Er hatte sie letzte Nacht während des Gewitters in seinen Armen gehalten, hatte heute immer ein Auge auf sie gehabt und verlangte einen Kuss, sobald sie wieder vor ihm stand. Herrgott, das alles fühlte sich gut an.
Dani machte einen Schritt auf ihn zu, packte ihn am Hemd und stellte sich auf die Zehenspitzen. Als sie ihn küsste, spürte sie, wie er um Fassung rang und sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. Er ließ es einfach geschehen, öffnete die Lippen und gab sich voll und ganz ihrem Kuss hin. Dani spielte einen Moment lang mit seinen Lippen und hatte mit dem nächsten Atemzug den Kuss vertieft. Mitch reagierte leidenschaftlich und fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar. Dani schmiegte sich eng an ihn.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, glühten Danis Lippen. Beide keuchten ein wenig benommen. Was ein einfacher Kuss sein sollte, war zu einer Explosion der Leidenschaft geworden. Mitch sah sie an, und seine Stimme klang rauh. »Ich weiß nicht, wie ich all das jemals habe aufgeben können.«
Dani hielt sich noch immer an seinem Hemd fest, um nicht zu schwanken. »Soweit ich mich erinnern kann«, erwiderte sie mit brüchiger Stimme, »habe ich dich angebrüllt, und du hast geblutet.«
»Guter Punkt.«
Dani betrat die Wohnung und versuchte zu ignorieren, dass Mitch mit ihren Nackenhaaren spielte. »Du sagtest, du hättest etwas gefunden?«, fragte sie erneut.
Mitch nahm sie an der Hand und führte sie zum Arbeitszimmer, wo der Laptop auf einem Couchtisch stand, daneben ein dünner Stapel Papier, offenbar Ausdrucke. »Rosies Baby wurde im Frühjahr zweitausendacht geboren, stimmt’s?«, sagte er, während sie sich aufs Sofa setzten.
»Stimmt. Janet wusste nicht genau, wann.«
Mitch berührte das Touchpad des Laptops, und der Bildschirm erwachte zum Leben. »Hier, die Adoptionen, die seit Januar zweitausendacht von OCIN abgewickelt wurden.« Er scrollte über die Seiten. »Jede Akte enthält ein Foto des Kindes, ein Foto der Adoptiveltern und in seltenen Fällen – wenn beide Seiten einverstanden waren – ein Foto der leiblichen Mutter. Manchmal gibt es auch Briefe der leiblichen Mütter –«
»Ich weiß. Gestern Nacht habe ich ein paar Akten durchgesehen.« Und ich hatte keine besondere Lust auf mehr, dachte Dani. Manche Bilder brachen einem wirklich das Herz … Ein ausgemergelter Knirps in einer AIDS-Klinik in Südafrika. Ein fünfzehn Monate altes Kleinkind mit fetalem Alkoholsyndrom. Ein vierjähriger Junge aus Lettland mit seiner Zwillingsschwester, der sich nicht an seine Eltern erinnern konnte. Ein sechs Monate alter Säugling aus der Ukraine, der wie ein Neugeborenes aussah. In der Akte stand, dass das für ein Frühchen durchaus normal sei.
Mitch sah sich den Fall genauer an. »Der Junge heißt Sasha. Er wurde an ein Paar hier in Maryland vermittelt. In Cheshire Heights, um genau zu sein.«
»Robert und Alana Kinney«, las Dani. Die Namen sagten ihr nichts. Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht.«
Mitch reichte ihr die Ausdrucke. »Hier ist ein Foto.«
Dani sah auf das erste Blatt – ein Paar Ende dreißig, das solide und glücklich wirkte. Sie hatten Geld, und in ihren Augen war ein Leuchten echter Hoffnung zu sehen. Sie hatten dieses Bild extra für ihre Bewerbung bei der Adoptionsagentur machen lassen, dachte Dani. Sie standen Seite an Seite geschmiegt in ihrem Vorgarten, mit dem Weihnachtsbaum im Hintergrund, und hielten Händchen, und –
»Du lieber Himmel.« Dani schnappte nach Luft, als sie auf die Hände der Frau sah. Die Saphirmine. Schockiert blickte sie erst Mitch und dann das Foto an. »Aber …« Dani fehlten die Worte. Sie sah sich
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