Maggie O'Dell 03 - Schwarze Seele
darunter hervorstehen wie Stroh. Was für ein Feigling. Kein Uberlebensinstinkt. Keine Würde. Keine Seele.
Er legte das Buch auf den Schoß und ließ es auf der Seite mit dem ungewöhnlichen Lesezeichen aufklappen - ein unbenutztes Flugticket, an den Ecken verknickt und längst abgelaufen. Das Buch würde ihn beruhigen, das hatte es immer getan. Es bot Führung und Inspiration, Anleitung und sogar Rechtfertigung. Seine Hände wurden bereits ruhiger.
Er zog die Hemdmanschette über das angetrocknete Blut. Sie hatte ihn ziemlich gekratzt. Es hatte höllisch wehgetan, aber das konnte er vorläufig ertragen. Waschen würde er sich die Hände später. Im Moment brauchte er das Gefühl, etwas Richtiges vollbracht zu haben. Er musste seine Frustration dämpfen und zur Geduld zurückfinden. Doch er musste immer daran denken, wie nah er seinem Ziel gewesen war. Er wollte nicht mehr warten. Wenn er doch nur eine Möglichkeit finden könnte, die Wartezeit abzukürzen.
In dem Moment streckte ihm die Versagerin mit der Mütze auf dem Kopf die stinkende behandschuhte Hand ins Gesicht. „Haste mal ‘n Dollar oder zwei?“
Er blickt in ihr schmutziges Gesicht und merkte, dass sie noch recht jung war. Vielleicht war sie unter all dem Schmutz und dem Gestank nach Verfall und saurem Unrat sogar mal attraktiv gewesen. Er sah ihr forschend in die Augen. Sie waren klar, kristallblau und ja, da war Licht hinter ihnen. Kein leerer Blick der Verzweiflung. Noch nicht. Vielleicht musste er doch nicht länger warten.
14. KAPITEL
Newburgh Heights, Virginia
Der kalte Wind stach Maggie in die Haut, doch sie lief weiter und genoss das Gefühl. Delaneys Tod hatte sie in einer Weise aufgewühlt, mit der sie nicht gerechnet hatte und mit der sie noch nicht fertig wurde. Die Beerdigung hatte eine Lawine an Kindheitserinnerungen losgetreten, die sie stets hinter hohen inneren Barrieren zurückgehalten hatte, was so anstrengend war, dass sie sich manchmal wie betäubt fühlte und manchmal zornig wurde. Beides endete in Erschöpfung. Oder rührte die Erschöpfung daher, dass sie stets verbarg, wie es in ihr aussah, damit niemand ihre Zerrissenheit bemerkte? Niemand außer Gwen natürlich.
Sie wusste, dass Gwen ihre Verletzlichkeit spürte. Das war der Preis ihrer Freundschaft und sowohl Trost wie Ärgernis. Manchmal fragte sie sich, wie Gwen es mit ihr aushielt. Auf die Antwort war sie jedoch nicht allzu erpicht. Sie war ihrer klugen, liebevollen Mentorin einfach dankbar, weil sie mit einem Blick ihren Seelenzustand erkannte, den verborgenen Seelenmüll durchwühlte und aus einer emotionalen Reserve, von deren Existenz sie selbst keine Ahnung hatte, neue Kraft für sie schöpfte. Heute Abend war Gwen das gelungen, ohne mit einem einzigen Wort das eigentliche Problem anzusprechen. Maggie hoffte, diese neue Kraft bewahren zu können.
Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Profilerin hatte sie geglaubt, es sei ein schlichter Lernprozess, Gefühle in einzelne Schubladen verstauen zu können, um das Entsetzen und die schrecklichen Bilder, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wurde, von ihrem Privatleben zu trennen. So etwas unterrichtete man in Quantico zwar nicht, aber da sie ihre unerfreuliche Kindheit verdrängt hatte, war sie davon ausgegangen, auch die unerfreulichen Seiten ihres Berufes verdrängen zu können. Das Problem war nur, jedes Mal wenn sie glaubte, die Technik zu beherrschen, sprang eine dieser Schubladen auf. Was umso ärgerlicher war, da Gwen es merkte.
Maggie legte Tempo zu. Harvey lief hechelnd neben ihr her und beschwerte sich nicht. Seit sie den großen weißen Labrador Retriever übernommen hatte, war er so etwas wie ihr Schatten geworden und hatte einen ausgeprägten Schutztrieb entwickelt. Er reagierte auf Geräusche, die sie nicht mal hörte, und bellte bei sich nähernden Schritten, ob sie dem Briefträger oder dem Pizzalieferanten gehörten. Maggie konnte es dem Tier kaum verübeln.
Im letzten Frühling war der Hund Zeuge geworden, wie sein Frauchen von dem Serienkiller Albert Stucky aus dem eigenen Haus gekidnappt wurde. Maggie hatte Stucky bereits einmal hinter Gitter gebracht, doch er war geflohen. Trotz tapferer Gegenwehr hatte Harvey es nicht geschafft, den Angreifer aufzuhalten. Nachdem er von seinen Verletzungen genesen war, hatte sie ihn aufgenommen. Traurig hatte der Hund noch eine Weile aus den Fenstern ihres großen Tudorhauses geschaut und auf sein Frauchen gewartet. Als er zu begreifen schien, dass sie nicht
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