Magnus Jonson 02 - Wut
fest entschlossen.
Fliehen.
Wenn Björn das nächste Mal die Hütte verließ, würde sie keine Minute brauchen, um das Seil an ihren Knöcheln zu lösen. Mit den zusammengebundenen Handgelenken würde sie klarkommen müssen, aber zumindest würde sie laufen können. Harpa hatte versucht, sich die Geographie der Halbinsel Snæfells in Erinnerung
zu rufen. Sie meinte ziemlich sicher zu wissen, wo sie sich befanden und dass eine neue Straße nicht weit entfernt über einen parallel verlaufenden Pass führte. Nicht mehr genau erinnern konnte sie sich, ob er westlich oder östlich war. Harpa tippte auf Westen.
Sie hatte vor, den Hang hinaufzuklettern und über den Kamm zur Straße auf der anderen Seite zu laufen, wo sie das erstbeste Auto stoppen würde, das vorbeikam. Jeder würde sofort anhalten, wenn eine Frau mit gefesselten Händen mitten im Weg stand.
Aber zuerst musste Björn die Hütte wieder verlassen. Harpa hatte keine Ahnung, wann es so weit sein würde, und sie wollte ihn nicht fragen, weil er dann Verdacht schöpfen konnte.
Sie überlegte, was sie der Polizei erzählen würde. Es wäre nützlich, wenn sie den Namen des nächsten Opfers und des Attentäters nennen könnte. Doch das hatte Björn ihr nicht sagen wollen. Mal sehen, was sie da noch ausrichten konnte.
»Und, lässt du mich laufen, wenn ihr den Nächsten auf eurer Liste erledigt habt?«
»Weiß ich nicht«, antwortete Björn. Es sah aus, als freue er sich über ihre Frage. »Kommt drauf an. Auf dich.«
»Hm.« Harpa ließ das Schweigen wirken. Sie wusste, dass Björn sich gern einredete, er könne sie überzeugen, seinetwegen ein paar Tage stillzuhalten. »Und wann ist es so weit?«, fragte sie.
»Kann ich nicht sagen.«
»Heute? Heute Nacht? Morgen? Nächste Woche?«
»Vielleicht heute Nachmittag. Wahrscheinlich heute Abend. Mit Sicherheit morgen früh.«
»Wie erfährst du das?«
»Per SMS.«
»Deshalb musst du immer wieder raus zum Telefonieren?«
»Wenn ich höre, dass alles vorbereitet ist, muss ich nichts weiter tun, als auf die SMS warten.«
»Von wem?«
Björn schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen, Harpa.«
»Gut. Dann sag mir wenigstens, wer das Opfer ist.«
Erneut schüttelte er den Kopf. Harpa merkte, dass seine anfängliche Freude, sich mit ihr zu unterhalten, nachließ.
»Ich verstehe nicht, warum du mir das nicht sagen willst. Schließlich kann ich nichts dagegen tun, oder? Du kannst es mir genauso gut verraten.«
»Ich sage es dir, wenn es erledigt ist.« Björns Stimme war fest.
Harpa wollte ihn nicht noch weiter bedrängen, damit er nicht merkte, was sie im Schilde führte. »Wie du willst«, sagte sie.
Sie schwiegen fünf, vielleicht zehn Minuten. Durch das Fenster sah Harpa, wie die Wolken durchs Tal zogen und abwechselnd dichten Nebel und Sonnenschein brachten.
Nebel war günstig, um Björn zu entkommen. Andererseits konnte man sich bei Nebel viel schneller in den Bergen verirren. Sie würde einfach die Gelegenheit beim Schopfe packen müssen, wenn sie sich bot.
Björn sah auf die Uhr. »Ich geh noch mal nach der SMS schauen.« Er warf einen kurzen Blick auf Harpas Hand- und Fußgelenke und verließ dann die Hütte. Kurz darauf hörte sie, wie der Motor seines Pick-ups ansprang, dann das Geräusch des in Richtung Straße holpernden Fahrzeugs.
Sie bückte sich und machte sich an den Knoten. Er wollte sich nicht lösen, verdammt noch mal! Dabei war sie sicher, es so gut wie geschafft zu haben.
Ruhig, Harpa! Sie hielt inne, atmete zweimal tief durch, musterte den Knoten, überlegte, zupfte hier am Strick, schob dort daran.
Dann war sie frei!
Kurz suchte sie nach ihrem Handy und einem Messer, konnte aber keins von beiden entdecken. Sie hatte keine Zeit. Mit den gefesselten Händen zog sie die Tür auf und stürzte nach draußen.
Ísak sah, wie Björn die Hütte verließ. Sein Herz schlug schneller, als er beobachtete, wie der Pick-up hinunter zum Weg und dann hoch zum Pass holperte. Wolkenfetzen trieben ins Tal, tasteten
sich mit feuchten Fingern voran, umschlangen Felsblöcke und Steine und schoben sich lautlos nach unten vor. Der Beginn des Passes war nicht zu sehen. Hervorragend. Ísak wollte erst in Aktion treten, wenn Björns Pick-up im Nebel verschwunden war.
Das Fahrzeug wurde von einer Wolke verschluckt. Ísak zögerte. Umklammerte das Messer in seiner behandschuhten Hand und eilte auf die Hütte zu. Er war kaum fünf Meter weit gekommen, als er hörte, wie sich die Tür erneut
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