Magnus Jonson 02 - Wut
nichts schreiben können. Würde er jemals wieder schreiben können?
Er würde es niemandem erzählen. Weder den Kindern noch seinen Freunden. Lilja hätte er es natürlich sagen müssen, aber sie hatte ihn vor zwei Jahren verlassen. Ein plötzlicher Herzinfarkt.
Ohne Vorwarnung, die Folge einer unerkannten Herzerkrankung. Er war froh, dass er es Lilja nicht erzählen musste.
Gut. Zwei Entscheidungen.
Was war mit dem Schreiben? Kaum hatte er sich gefragt, ob er noch schreiben könne, hatte sein Unterbewusstsein laut Ja geschrien, natürlich könnte er das! Aber was? Was sollte er in sechs Monaten schreiben, das sich wirklich lohnte? Hätte er zwei Jahre, könnte er sich vielleicht zwingen, den großen isländischen Roman zu verfassen, der an Halldór Laxness heranreichen mochte und Benedikt garantierte, dass man sich an ihn erinnern würde.
Doch wem machte er hier etwas vor? Wenn er so ein Buch schreiben könnte, hätte er es längst getan.
Die Zigarette verwandelte sich in Asche. Die kalte Luft biss in seine Wangen. Doch gleichzeitig klärte der Wind seine Verwirrung.
Das Moor und der Mann war kein schlechtes Buch. Es mochte sogar sein bestes sein. Er hätte noch genug Zeit, um es fertigzustellen. Dazu vielleicht die eine oder andere Kurzgeschichte. Doch was könnte er in den letzten Monaten seines Lebens der Welt mitteilen?
Plötzlich fiel es ihm ein. Er würde die Wahrheit sagen. Nach vierzig Jahren würde er endlich die Wahrheit sagen.
Er drückte die Zigarette aus, erhob sich und kletterte zurück zu seinem Wagen. Er musste wieder an den Schreibtisch. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
Montag, 21. September 2009
»Hast du das mit Julian Lister in den Nachrichten gesehen?«, fragte Vigdís Magnus, als sie zur Arbeit kam.
»Ja, der arme Kerl.«
»Sie befürchten, dass er es nicht schafft.«
»Hm.« Auch Magnus hatte am Morgen die Nachrichten gehört. Lister war die Nacht über in einem Krankenhaus in Rouen operiert
worden. Die Ärzte schätzten seine Überlebenschancen als gering ein.
»Meinst du, da besteht eine Verbindung?«, fragte Vigdís und ließ ihre Tasche neben den Schreibtisch fallen.
»Zu Óskar?« Magnus schaute sie aufmerksam an. »Habe ich auch schon überlegt.«
»Einige Isländer würden sich freuen, wenn Lister tot wäre«, bemerkte Vigdís. »Nicht die Mehrheit, nicht mal eine Minderheit, aber es braucht ja bloß einen.«
»Oder zwei oder drei.«
»Du meinst Björn und Harpa?«
»Und vielleicht Ísak.«
Vigdís hob die Augenbrauen. »Wir haben keinerlei Beweise für eine Verbindung zwischen ihm und den anderen beiden.«
»Gut, wenn nicht Ísak, dann halt jemand anders.«
»Wir behaupten also, da draußen rennt eine Gruppe Irrer herum, die es auf Banker und Politiker abgesehen hat?«
»Auf Menschen, die ihrer Meinung nach für die kreppa verantwortlich sind.«
Magnus und Vigdís tauschten einen Blick aus. »Wenn wir mit so was kommen, dann ist die Kacke aber richtig am Dampfen«, bemerkte Vigdís.
»Ich weiß«, sagte Magnus.
»Und ich meine nicht nur bei Baldur. Auch bei Þorkell. Und beim Großen Lachs selbst.«
»Ich weiß.«
»Wir haben keinerlei Beweise, oder?«
»Ich weiß.«
»Was sollen wir also tun?«
Magnus hatte bereits darüber nachgedacht. »Fürs Erste bleiben wir einfach für alles offen. Baldur hat gesagt, ich soll heute zur Polizeiakademie, um elf muss ich eine Vorlesung halten. Aber ich habe eine Idee.«
»Nämlich?«
»Hat die Polizei während der Unruhen im Januar Überwachungskameras laufen lassen?«
»Klar.«
»Dann grab die von dem Tag heraus, als Gabríel Örn starb. Schau nach, ob du irgendwo Harpa siehst. Und Björn. Was die beiden so machen. Mit wem sie reden. Vielleicht kannst du auch herausfinden, ob sie sich wirklich erst dort kennengelernt haben.«
»Mach ich«, sagte Vigdís.
»Sag mir Bescheid, was du findest. Bis dahin: Wie komme ich an die Akte über einen Mord von 1985?«
»Welcher Fall?«
»Benedikt Jóhannesson.«
»Der Schriftsteller?«
»Ja. Weißt du irgendwas darüber?«
»Damals war ich noch ein Kind. Aber wir haben den Fall an der Akademie durchgenommen. Zu Hause erstochen, oder? Das Verbrechen wurde nicht aufgeklärt.«
»Genau, den Fall meine ich.«
»Hat das irgendwas mit Óskar zu tun?«
»Eigentlich nicht.«
Vigdís runzelte die Stirn. Magnus wartete. Vigdís beschloss, nicht näher darauf einzugehen. »Er wird nicht eingescannt sein, aber irgendwo im Archiv wird die Originalakte herumliegen. Dauert
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