Magnus Jonson 02 - Wut
Die Reihe von Todesfällen über einen Zeitraum von fünfzig Jahren. Den Tod seines eigenen Vaters.
Die Versuchung war groß, alles einfach zu verdrängen und sich auf den heutigen Tag zu konzentrieren, auf Óskar und Gabríel Örn.
Aber Ingileif hatte recht: Gerade er konnte nicht die Augen verschließen, da er jetzt so viel aufgedeckt hatte.
Zwei Dinge musste er tun. Erstens herausfinden, ob sein Großvater in Amerika gewesen war, als sein Vater ermordet wurde, und sich zweitens die Akte von 1985 über den Tod von Benedikt Jóhannesson ansehen.
Sein Handy gab einen Signalton von sich. Er sah nach. Eine Sprachnachricht. Er rief die Mailbox an und hörte die Stimme seines Bruders.
»Hi, Magnus, hier ist Ollie. Wollte mich nur mal melden. Ruf mich doch an, wenn du kurz Zeit hast.« Die Nachricht war eine Stunde zuvor aufgenommen worden, wahrscheinlich hatte Magnus auf dem Rückweg von Stykkishólmur keinen Empfang gehabt.
Ollie. Der arme Ollie. Anders als Magnus, der sich stets zu seinen isländischen Wurzeln bekannte, hatte Ollie sie immer geleugnet. Er war Amerikaner durch und durch. Diesen Dienst erwies das Land den Einwanderern auch heute noch, so wie in seiner gesamten Geschichte; es schenkte jedem die Möglichkeit, seine bisherige Existenz aufzugeben und jemand anders zu sein. Ollie hatte dieses Angebot begeistert angenommen.
Angesichts der schlimmen Jahre, die er in Island verbracht hatte, konnte man es ihm kaum verübeln.
Magnus überlegte, ob er Ollie an Ort und Stelle zurückrufen und ihm erzählen sollte, wo er gewesen war. Vielleicht bekäme sein Bruder dadurch die Chance, einige alte Gespenster zu vertreiben.
Vielleicht aber auch nicht. Magnus konnte sich nicht überwinden, mit ihm zu sprechen. Er würde am nächsten Tag zurückrufen. Oder am übernächsten.
Er trank sein Bier aus, ging zum Kühlschrank, um sich noch eins zu holen, und stellte dabei den kleinen Fernseher an.
Es liefen die Nachrichten im staatlichen Sender RÚV. Es gab einen Bericht über Julian Lister, den ehemaligen britischen Schatzkanzler.
Magnus fand, die Isländer sollten langsam mal Ruhe geben. Sicherlich waren sie schlecht behandelt worden, aber Lister war weder der Grund für ihre Probleme noch die Lösung, erst recht nicht, seit er von seinem eigenen Premierminister fallengelassen worden war.
Doch irgendetwas am Ton des Nachrichtensprechers klang anders. Magnus warf einen Blick auf das Bild. Ein Rettungswagen. Ein Krankenhaus in Frankreich.
Er setzte sich hin und sah zu.
Ein unbekannter Schütze hatte vor Listers Ferienhaus in der Normandie zweimal auf den ehemaligen Minister geschossen. Er lag in kritischem Zustand im Krankenhaus von Rouen. Noch war niemand verhaftet worden. Die Spekulationen drehten sich um einen terroristischen Anschlag, al-Qaida war der aussichtsreichste Kandidat, aber auch irische Nationalisten wurden erwähnt. Die französische Polizei gab keinen Kommentar dazu ab.
Es gibt bestimmt ein paar Isländer, die sich über die Nachricht freuen, dachte Magnus.
Dann überlegte er etwas gründlicher.
Nein. Es konnte keine Verbindung zwischen Gabríel Örn, Óskar und Julian Lister geben, das war zu weit hergeholt. Außerdem hatte Magnus am Wochenende sowohl mit Björn als auch mit Harpa gesprochen, sie konnten also auf gar keinen Fall auf jemanden in Frankreich geschossen haben.
Und dennoch …
21
Februar 1985
Benedikt Jóhannesson saß auf einem Felsen und starrte über den schwarzen Damm zum Leuchtturm Grótta auf seiner eigenen kleinen Insel. Dahinter schoben und drängten sich graue Wolken, während ein starker kalter Wind vom Atlantik hereinblies und die Wellen gegen den Vulkansand schlugen. Benedikt war allein.
Gut.
In seinen Parka gemummelt, öffnete er die Schachtel Zigaretten, die er gerade gekauft hatte, und versuchte, sich eine anzuzünden. Bei dem Wind brauchte er länger dafür, er war nicht mehr in Übung. Doch schließlich fing sie Feuer, er nahm einen tiefen Zug und unterdrückte den Drang zu husten.
Es schmeckte gut.
Sechzehn Stunden nachdem er aus dem Krankenhaus gestolpert war, hatte er seinen ersten positiven Entschluss gefasst, nämlich wieder zu rauchen. Es war fast acht Jahre her, seit er aufgehört hatte, und es hatte ihm gefehlt. Jetzt brauchte er seine Lunge nicht mehr zu schonen.
Das Nikotin brachte seinen Kopf zum Summen und verzerrte die Schmerzen von all dem Brandy, den er am Vorabend getrunken hatte. Sein Hirn war eine zähe Masse: An diesem Tag würde er
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