Malevil
kenne.«
»Emmanuels Onkel«, sagte die Menou, »war immer so freundlich, der Arme, und hat mir abends manchmal Stellen aus seinem Buch
vorgelesen.«
»Laß dich nicht bitten, Emmanuel«, sagte Colin.
»Los«, sagte Peyssou.
»Aber vielleicht langweilt es euch«, sagte ich und vermied, Thomas anzusehen.
»Aber nein, aber nein«, sagte die Menou, »das ist besser, als irgendwas daherzureden oder seinen Gedanken nachzuhängen. Wo
es jetzt kein Fernsehen mehr gibt«, setzte sie hinzu.
»Ich gebe dir völlig recht«, sagte Peyssou.
|138| Ich schaute abwechselnd auf Meyssonnier und Thomas, doch keiner von beiden erwiderte meinen Blick.
»Wenn alle einverstanden sind, möchte ich schon«, sagte ich nach einer Weile.
Und da die beiden weiterhin schwiegen und in die Flammen schauten, fragte ich: »Meyssonnier?«
Auf einen so direkten Angriff war er nicht gefaßt. Er richtete sich auf und stemmte den Rücken an die Sessellehne.
»Ich bin Materialist«, sagte er mit Würde. »Aber wenn man mich nicht zwingt, an Gott zu glauben, langweilt es mich keinesfalls,
die Geschichte des jüdischen Volkes anzuhören.«
»Thomas?«
Entspannt, die Hände in den Hosentaschen, hielt Thomas die Beine von sich gestreckt und den Blick auf seine Schuhe geheftet.
»Wenn du die Bibel leise liest, kannst du sie doch auch laut lesen«, sagte er unbeteiligt.
Das war eine mehrdeutige Antwort, aber ich gab mich zufrieden. Außerdem dachte ich, das Vorlesen würde meinen Gefährten guttun.
Tagsüber waren sie beschäftigt, aber der Abend war schlimm für sie. Es fehlte ihnen die Wärme des häuslichen Herdes. Es gab
Momente kaum erträglichen Schweigens, und während dieses Schweigens konnte ich fast sehen, wie sich ihr Geist unablässig um
die Leere ihrer Existenz drehte. Zudem war das Leben der primitiven Stämme in der Bibel dem Leben, das wir jetzt führten,
nicht unähnlich. Ich war sicher, es würde sie interessieren. Ich hoffte auch, daß sie aus dem hartnäckigen Lebenswillen, den
einstmals die Juden bewiesen hatten, Kraft schöpfen könnten.
Um mir die linke Seite zu wärmen, zog ich mit meinem zugeklappten Buch und dem Hocker an den anderen Kaminsockel. Die Menou
warf Reisig ins Feuer, damit ich mehr Licht hätte. Ich schlug die erste Seite der Bibel auf und begann die Schöpfungsgeschichte
zu lesen.
Während ich las, beschlich mich ein Gefühl von Rührung, gemischt mit Ironie.
Ich hatte ohne Zweifel eine großartige Dichtung vor mir. Sie besang die Erschaffung der Welt, und ich rezitierte sie in einer
zerstörten Welt, vor Menschen, die alles verloren hatten.
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|139| Anmerkung von Thomas
Solange dem Leser gewisse Einzelheiten noch frisch in Erinnerung sind, möchte ich auf zwei Irrtümer in Emmanuels Bericht hinweisen.
1. Ich meine, Emmanuel hat im Weinkeller mehrmals das Bewußtsein verloren, denn ich war ohne Unterbrechung an seiner Seite,
und trotzdem hat er mich die meiste Zeit nicht gesehen und mir nicht geantwortet, wenn ich ihn anredete. Eines versichere
ich jedenfalls:
Ich habe ihn niemals im Wasserbottich des Flaschenreinigers sitzen sehen.
Und auch kein anderer hat ihn darin gesehen. Diese Situation muß Emmanuel in seinem Wahn geträumt haben, die anschließenden
Gewissensbisse wegen seines »Egoismus« mit einbegriffen.
2. Nicht Emmanuel hat nach dem »entsetzenerregenden« Erscheinen Germains die Kellertür wieder geschlossen, sondern Meyssonnier.
Emmanuel muß sich in seinem halb unbewußten Zustand an die Stelle Meyssonniers versetzt haben, dessen Bewegungen er so sonderbar
genau beschreibt, als wären es seine eigenen: vor allem die Art und Weise, wie Meyssonnier sich auf allen vieren zur Tür schleppte,
ohne sich dem Leichnam Germains zu nähern.
Ich möchte eine Bemerkung hinzufügen.
Obgleich Atheist, bin ich doch nicht antiklerikal. Als Emmanuel anfing, in der Abendrunde die Bibel zu lesen, zeigte ich mich
nur deshalb ein wenig zurückhaltend, weil mir diese Zeremonie – das Wort ist vielleicht nicht am Platze, aber ich finde kein
anderes – allzusehr eine ohnehin schon vorhandene Tendenz zu verstärken schien: Ich meine den Einfluß von nahezu religiösem
Charakter, den Emmanuel auf seine Gefährten ausübt. Um so mehr, als Emmanuel mit seiner schönen tiefen Stimme den Text vibrierend
von innerer Bewegung vorliest. |140| Ich gebe zu, Emmanuel ist ein Mann von erstaunlicher Phantasie, und seine innere Bewegung ist vornehmlich literarisch. Doch
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