Malory
äußersten Rand des Schiffes.
Kapitel 36
Warren mußte die Steuerung des Schiffes fast ganz dem Wind überlassen, und obgleich erst früher Nachmittag war, betrug die Sichtweite nur wenige Meter. Wie tausend Nadeln prassel-te der Regen auf seine nackte Brust, und der Wind blies ihm sein langes Haar ins Gesicht. Die eiskalten Wellen, die übers Deck schlugen, warfen seinen Körper in das dicke Tau zurück, mit dem er sich am Steuerrad festgebunden hatte.
Er wünschte, er hätte sich die Zeit genommen, wenigstens ein Hemd überzuziehen, nicht nur wegen der Kälte, sondern auch wegen des Seils, das ihm den ganzen Rücken aufscheuerte.
Er hatte Taishi gebeten, ihm eine Regenjacke zu bringen, sobald der Wind ein wenig nachließ. Bisher aber nahm er noch an Stärke zu, und Warren fürchtete, daß seine Hände am Steuerrad festfrieren würden, wenn der Sturm in der kälter werdenden Nacht anhielt.
Dies war einer der schlimmsten Stürme, die er je erlebt hatte, und er hatte, weiß Gott, schon so manchen Orkan überstanden. Zum Glück waren die Großmasten noch nicht gebrochen, und die Mannschaft hatte die Segel gerade noch rechtzeitig einholen können, bevor der Sturm mit aller Macht einsetzte.
Nur eines der Wasserfässer hatte sich aus der Verankerung gelöst, und als es über Deck gerollt war, hatte es ein Stück von der Reling mitgerissen.
Warren setzte auf seine Geschicklichkeit und Erfahrung, aber da ihm dieses Schiff nicht so vertraut war wie sein eigenes, konnte er nicht abschätzen, wieviel es aushalten würde.
Und es gab keine Anzeichen, daß sich der Sturm bald legen würde. Schlimmer indes, so glaubte Warren, konnte er kaum noch werden.
Und dann blieb ihm fast das Herz stehen. Für einen kurzen Augenblick hatte der Wind den Regenschleier aufgerissen, und in diesen wenigen Sekunden sah er, wie Amy von der riesigen Welle gegen die gebrochene Reling geschleudert wurde, dicht neben die darin klaffende Lücke.
Amy wußte selbst nicht, wie es ihr gelungen war, an der Reling Halt zu finden. Aber sie hielt sie weiter umklammert wie einen rettenden Strohhalm. Immer wieder wurde sie von hohen Wellen überspült, und es dauerte quälende Augenblicke, bis sie Luft schöpfen konnte. Trotzdem verschwendete sie keinen Gedanken daran, sich den Weg zu ihrer Kabine zurückzukämpfen.
Sobald sich der Sturm ein wenig legte, würde sie versuchen, sich zum Achterdeck vorzuhangeln oder wenigstens so weit, daß sie Warren sehen konnte, ohne von ihm bemerkt zu werden. Vorausgesetzt, sie würde überhaupt etwas sehen.
Sie hatte nicht damit gerechnet, daß sie bei dem dichten Regen nicht einmal ihre eigene Hand vor Augen sehen würde.
Und so konnte sie auch nicht sehen, wie Warren auf sie zukam, um sie zu packen und von ihrem unsicheren Halt fort-zureißen. Sie schrie vor Schreck laut auf. Die Arme aber, die sie davontrugen, und der Nacken, den sie Halt suchend umschlang, waren vertrauenerweckender als das splitternde Holz der Reling, und die Stimme, die ihr ins Ohr rief: »Diesmal schlage ich dich grün und blau« war Musik in ihren Ohren.
Er lebte! Sie brauchte sich, vorerst zumindest, keine Sorgen zu machen.
Mit äußerster Willenskraft und etwas Glück – denn der Wel-lengang ließ vorübergehend etwas nach – konnte Warren sie zum Achterdeck zurückbalancieren. Er dachte nicht daran, Amy in ihre Kabine zu bringen, weil er keinen Schlüssel hatte, um sie einzusperren, und er damit rechnen mußte, daß sie das gewagte Spiel noch einmal versuchen würde.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht, die sichere Kabine zu verlassen, nur mit einem losen Hemd bekleidet? Am liebsten hätte er sie auf der Stelle verprügelt, doch dazu blieb ihm keine Zeit. Er konnte gerade noch mit ihr in die Schlaufe des am Steuerrad festgebundenen Taus schlüpfen, bevor die nächste Woge über das Deck schlug. Und wieder scheuerte ihm das Seil den Rücken auf.
Zeit, Amy Mut zuzusprechen, hatte er auch nicht. Er hatte, bevor er seinen Posten verließ, das Steuerrad blockiert und mußte jetzt seine ganze Kraft und Konzentration aufwenden, um das Schiff wieder auf den richtigen Kurs zu bringen.
Als er sich endlich einen Augenblick um Amy kümmern konnte, dachte er schon gar nicht mehr daran, sie zu bestrafen.
Ihr zierlicher, so vertrauensvoll an ihn geschmiegter Körper hatte ihn ganz und gar besänftigt. Er spürte, wie sehr sie seine Wär-me und seine Stärke brauchte, und sein Beschützerinstinkt war erwacht.
»Alles in Ordnung, meine
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