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Man Down

Man Down

Titel: Man Down Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: André Pilz
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wird in Gewalt enden. Und manchmal, da wird mir klar – das ganze Leben ist schon vorbei … alles kommt, wie es kommt, ich kann da gar nichts mehr ändern. Ich bin dazu gezwungen, dieses Leben zu leben. Augen zu und durch. So wie einer in einen Achterbahnwagen einsteigt und nichts mehr tun kann. Es geht bergauf, es geht bergab, alles Vollkaracho, du kannst nichts tun, du bist der Scheiße ausgeliefert. Du hast nur deine Gefühle, du liebst, du hasst, du fühlst Glück und Schmerz, aber an der Fahrtrichtung und am Ziel kannst du nichts ändern, auch wenn du noch so schreist und fluchst.
    Ich habe Angst, dass ich eines Tages ausraste und etwas tue, das mich in den Knast bringt. Ich überstehe den Knast nicht, das weißt Du. Ich geh da drinnen kaputt. Ich bin wütend genug, wen zu töten, aber nicht hart genug, meine Zeit abzusitzen. Von mir aus nenn mich eine verdammte Schwuchtel, nenn mich einen Feigling. Ich bin nicht der Krieger, der ich gerne wäre, nicht aus Eisen und Stahl wie Shane, aber ich habe diese Wut in mir. Mir wird manchmal schwarz vor Augen, weil diese Ungeheuer in mir rebellieren, weil sie raus wollen, töten wollen, sie können dieses Leben, diese Demütigungen keinen Tag länger ertragen.
    Ich wünschte, ich könnte in einen Fluss steigen und all die Wut, den Hass und den Frust in dem kalten Wasser abstreifen. Ich wünschte, ich könnte einen Schritt zur Seite machen, nur einen Schritt zur Seite, und alles wäre anders, alles wäre gut.
    ***
    Ich bunkerte den Stoff ausnahmsweise über Nacht bei mir, da die Party erst am folgenden Tag stattfand. Ich machte die ganze Nacht kein Auge zu. Sobald ich einschlief, träumte ich von Bullen, die meine Wohnung stürmten. Wenn ich wach war, glaubte ich die Stimme des Marokkaners im Stiegenhaus zu hören, glaubte ich, er würde jeden Moment die Tür eintreten, um sich den Stoff zurückzuholen.
    Aber niemand kam. Ich blieb in der Bude mit dem Gras, dem Eisen und den Motten alleine. Ich hatte Angst, die verdammten Viecher könnten mein Gras anrühren, aber sie blieben brav davon fern und fraßen meine Unterhosen.
    Irgendwann am frühen Morgen hörte ich ein Kind schluchzen. Ich war verwirrt, denn meine Nachbarn hatten keine Kinder. Sie hatten Hunde und Katzen, Bohrmaschinen und laute Fernsehgeräte, aber keine Kinder. Das Schluchzen wurde zu einem Weinen, ich stand auf und horchte, woher das Geräusch kam, von oben oder von unten, von rechts oder von links, aber das Weinen war nicht zu orten. Ich legte mich zurück auf die Matratze und hörte dem Kind zu und fragte mich, warum es wohl weinte. Es war kein Baby, kein kleines Kind, es war alt genug, um in die Schule zu gehen. Ich hatte zu oft meinen Bruder weinen gehört, als dass ich das nicht wissen würde. Florian musste wegen seiner ständigen Heulerei zu nem Psychodoktor, aber helfen konnte der nicht. Hatte ja auch keine Ahnung, was da so an unserer Schule abging. Der lebte in einer Villa am Stadtrand, wie konnte er glauben, er hätte auch nur einen Funken Ahnung von der Hölle, durch die mein Bruder ging.
    Florian war elf, als er in den Fluss fiel. Ich werde nie vergessen, wie die Strömung ihn davonriss. Nachdem er ein paar Meter abgetrieben worden war, tauchte er unter und nicht mehr auf. Ich sprang ihm hinterher. Nach etwa 200 Meter konnte ich mich an einem Ast eines umgestürzten Baumes festhalten und mich ans Ufer retten. Die Rettungskräfte fanden meinen Bruder nach etwa einer halben Stunde. Er war bewusstlos und hatte viel Wasser in der Lunge.
    Jeden Tag dachte ich an diesen Augenblick. Wie er ins Wasser fällt und von der Strömung fortgerissen wird. Und manchmal kam dieser Moment mit solcher Wucht zurück, dass ich Angst hatte, verrückt zu werden. Ich legte mich dann auf meine Matratze, zog die Decke übern Kopf und wartete … wartete, bis der Wahnsinn vorüber war, als wäre er ein Gewitter, das aufkommt und wieder abzieht. Ich rollte mich zusammen wie ein kleines Kind und wusste, dass der Blitz mich jederzeit treffen konnte, dass nicht viel zum absoluten Kollaps fehlte. Der Wahnsinn konnte jeden Moment ausbrechen und mich in die Klapsmühle oder – schlimmer – ins Gefängnis bringen. Und war ich erst mal dort, das wusste ich, würde ich nie wieder zurückkommen.
    Es gab eine Zeit, da habe ich noch gelesen. Ich habe Bücher gefressen, Romane, Biografien, Geschichtsbücher, Fußballbücher, Comics, Philosophen, manchmal fünf, sechs Bücher nebeneinander. Ich suchte Trost, suchte Weisheit in den

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