Mann Ohne Makel
war müde. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er ahnte, er würde nicht einschlafen können. Er erinnerte sich an seinen zweiten Schlag. Es war einfach gewesen. Er hatte sich dem Jungen an die Fersen geheftet, Monate lang. Bis ihm die Idee kam, so einfach, so wirksam. In Goldblums Keller lag das Gift, als würde es auf ihn warten. Goldblum hatte ihm erzählt, wie er einem Nazi auf dem Schwarzmarkt die Zyankalikapseln abkaufte. Es klang, als hätte Goldblum ihm gesagt: Nimm die Blausäure, und tu, was du für uns alle tun musst.
Er hatte sich neben den Jungen an den Beckenrand gesetzt. Im richtigen Moment leerte er die Kapsel in die Flasche. Dann stand er auf und ging.
VII
Als er aufwachte, brannten seine Augen. Das taten sie immer, wenn er zu wenig schlief. Es war ein Wunder, dass er überhaupt geschlafen hatte. Er frühstückte und duschte. Er dachte an den gestrigen Abend und fühlte sich mies. Ihn quälte die Vorstellung, an die Uni zu müssen. Er zog sich an und verließ bald seine Wohnung.
Auf seinem Schreibtisch im Philosophenturm lag ein Zettel, er möge Dr. Möller anrufen. Renate Breuer hatte auch die Telefonnummer aufgeschrieben. Stachelmann stöhnte leise. Er wählte die Nummer, erreichte den Psychiater aber nicht. Er sei nicht abkömmlich, sagte eine weibliche Stimme. Er möge in einer halben Stunde noch einmal anrufen. Stachelmann hätte fast gefragt, wer hier von wem etwas wolle.
Es klopfte an der Tür, sie öffnete sich, Anne streckte ihren Kopf hinein. »Na, hast du den Zug gekriegt?«
»Ja«, sagte er.
»Du siehst ja schlimm aus. Bist du krank?«
»Nein, nein«, sagte Stachelmann. »Ich habe mies geschlafen.«
»Ich auch«, sagte Anne. »Was ich fragen wollte: Hast du im Bundesarchiv angerufen und denen gesagt, du hättest dich vermehrt?«
Stachelmann schlug sich mit der flachen Hand an den Kopf. »Scheiße, ich hab’s vergessen. Ich mache es heute noch. Ich werde dich als meine Assistentin einschmuggeln. Dann können sie schlecht nein sagen.«
»Ist ja interessant, Assistentin«, sagte Anne. »Wie schön, dass ich dir einen Wunsch erfüllen kann.«
Stachelmann sagte: »Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint. Es wäre nur die einfachste …«
Sie grinste und ging.
Was für ein wunderbarer Tag.
Er blätterte im Deutschlandarchiv, das er im Posteingang gefunden hatte. Seit einigen Nummern wurde darin gestritten über die sowjetische Deutschlandpolitik Anfang der fünfziger Jahre. Seine Aufmerksamkeit für diese Artikel schwand von Heft zu Heft. Sie verloren an Substanz und gewannen an Rechthaberei. So war es immer, wenn Streit unter Kollegen ausbrach. Am Anfang verfolgte Stachelmann die Debatte gespannt, um dann rasch das Interesse zu verlieren. Zuerst gab es den Inhalt, übrig blieb der Popanz. Stachelmann verglich die Kontroversen gerne mit dem Kampf der Hirsche zur Brunftzeit. Ein paar von den alten Diven der Zunft waren leicht beleidigt und in diesem Zustand nicht bereit, anzuerkennen, dass zwei und zwei vier sind, sobald der Konkurrent dies behauptete. Manche ritten sich so in den Sumpf, weil sie Recht haben mussten und auch auf Missverständlichem beharrten. Bohming, der Sagenhafte, der als Trabant mal um diesen und mal um jenen Planeten im Historikerkosmos kreiste, wartete ab, wie sich ein Streit entwickelte, um sich dann für eine Seite zu entscheiden. Stachelmann musste grinsen. Bohming war ein Filou, er war längst auf der höchsten Ebene aller Debatten angekommen, dort, wo Streit um seiner selbst willen ausgefochten wurde.
Stachelmann legte das Heft weg und griff zum Telefonhörer. Diesmal war Dr. Möller gnädig. »Könnten Sie noch einmal kommen?«, fragte er. Natürlich musste es gleich sein, der Doktor hatte gerade Zeit. Und was morgen werde, wisse man nie. Man lebe ja in Zeiten, wo man stündlich damit rechnen müsse, zu den Opfern eines Unfalls gerufen zu werden. Stachelmann war überzeugt, es war der Tag der Verrückten. Möller war hysterisch, Anne war komisch, Alicia hatte sowieso eine Meise.
Diesmal hatte Stachelmann Zeit, und so lief er zur Klinik. Dr. Möller begrüßte ihn freundlich, bot ihm einen Stuhl an und schwieg. Dann sagte er doch etwas. »Ich bin mir ganz sicher, dass Sie Frau Weitbrecht nicht immer abgewiesen haben. Ich verstehe schon, es ist Ihnen unangenehm. Und an der Uni kann es Ärger geben.«
Stachelmann schaute ihn an. Er schüttelte den Kopf. Er begriff nichts. »Nein, Frau Weitbrecht ist Teilnehmerin meines Proseminars. Das
Weitere Kostenlose Bücher