Marc Levy
keiner. Das Schloss wies keinerlei Spuren von Gewaltanwendung auf, und niemand von seinen Leuten hatte einen Schlüssel, um nachts das Gelände betreten zu können. Er fragte den Werkstattleiter, was die
»Entleiher« dazu bewegt haben könnte, ein so altes Modell auszuwählen, und der erklärte ihm, dass es das einzige sei, das sich wie ein normales Auto fuhr. Pilguez sah darin einen weiteren Hinweis darauf, dass ein Werkstattangestellter an dem Fall beteiligt war. Die Frage, ob es vorstellbar sei, dass jemand den Schlüssel entwendet habe und im Laufe des Tages habe nachmachen lassen, wurde bejaht: »Das ist schon möglich, mittags, wenn das Haupttor geschlossen wird.« Weiterhin waren also alle verdächtig. Pilguez ließ sich die Personalakten geben und legte oben auf den Stapel die Unterlagen der Mitarbeiter, die die Werkstatt im Laufe der vergangenen zwei Jahre verlassen hatten. Gegen vierzehn Uhr war er wieder im Kommissariat. Nathalia war noch nicht aus der Mittagspause zurück, und so vertiefte er sich in die gründliche Analyse der siebenundfünfzig Hefter, die er auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Gegen fünfzehn Uhr kam Nathalia, mit neuer Frisur und bestens gewappnet, dem Spott ihres Arbeitskollegen die Stirn zu bieten.
»Sei still, George, du wirst nur etwas Dummes sagen«, bekam er zu hören, noch bevor sie ihre Tasche abgestellt hatte.
Er hob den Blick von den Papieren, betrachtete sie eingehend und zeigte den Anflug eines Lächelns. Bevor er irgend etwas äußern konnte, war sie zu ihm getreten und hatte 175
ihm den Zeigefinger auf die Lippen gelegt, damit er auch wirklich kein Wort sagte. »Es gibt da nämlich etwas, das dich sehr viel mehr interessieren wird als meine Frisur, und ich sage es dir nur, wenn du dir jeglichen Kommentar verkneifst, einverstanden?« Er tat, als sei er geknebelt, und grunzte zum Zeichen, dass er den Handel akzeptierte. Sie nahm ihren Finger weg.
»Die Mutter der Kleinen hat angerufen, etwas ist ihr wieder eingefallen, das für deine Untersuchung sehr wichtig sein könnte, und sie möchte, dass du dich mit ihr in Verbindung setzt. Sie ist zu Hause und wartet auf deinen Anruf.«
»Ich finde deine Frisur toll, sie steht dir ausgezeichnet.«
Nathalia lächelte und ging an ihren Schreibtisch zurück. Am Telefon berichtete Mrs. Kline Pilguez von dem jungen Mann, den sie zufällig an der Marina getroffen und der ihr so sehr ins Gewissen geredet hatte. Sie erzählte ihm von der Begegnung mit dem Architekten, der ihre Tochter in der Notaufnahme kennen gelernt haben wollte, wo er sich angeblich eine Schnittverletzung behandeln ließ. Er hatte behauptet, häufig mit Lauren zu Mittag gegessen zu haben. Obwohl der Hund ihn ganz offenkundig wieder erkannte, fand sie es
unwahrscheinlich, dass ihre Tochter ihr nie von ihm erzählt haben sollte, vor allem wenn er sie, wie er meinte, schon vor zwei Jahren kennen gelernt hatte. Dieses letzte Detail würde die Nachforschungen sicher erleichtern. »Sagen Sie bloß«, murmelte Pilguez. »Grob gesagt«, schloss er, »verlangen Sie von mir, einen Architekten zu finden, der sich vor zwei Jahren verletzt hat, dann von Ihrer Tochter verarztet wurde und der uns verdächtig erscheint, weil er Ihnen im Verlauf einer zufälligen Begegnung deutlich gemacht hat, dass er gegen Sterbehilfe ist?« - »Halten Sie das nicht für eine ernst zu nehmende Spur?« fragte sie. »Nein, nicht wirklich«, meinte er und legte auf.
»Also, was war es?« fragte Nathalia.
176
»Die halblangen Haare standen dir aber auch nicht schlecht.«
»O.k., wir haben uns zu früh gefreut!«
Er versenkte sich wieder in seine Akten, doch keine davon gab ihm irgendeinen Hinweis. Genervt nahm er den Telefonhörer ab, klemmte ihn sich zwischen Ohr und Kinn und wählte die Nummer des Krankenhauses. Das Telefonfräulein antwortete beim neunten Klingeln.
»Besser, wenn man bei Ihnen nicht im Sterben liegt!«
»Nein, da rufen Sie lieber direkt beim Leichenschauhaus an«, gab die Empfangsdame schlagfertig zurück.
Pilguez stellte sich vor und fragte sie, ob es ihr EDV-System erlaube, einen in der Unfallstation behandelten Patienten anhand seines Berufes und seiner Verletzung noch im Nachhinein ausfindig zu machen. »Das hängt vom Zeitraum ab, in dem Sie suchen«, hatte sie geantwortet. Dann erklärte sie ihm, dass die ärztliche Schweigepflicht ihr ohnehin verbiete, irgendwelche Informationen herauszugeben, und schon gar nicht am Telefon. Er legte kommentarlos auf, nahm
Weitere Kostenlose Bücher