Marco Polo der Besessene 2
Magistrat. Voller Interesse hörte ich mir seine Erklärungen einiger lokaler Gesetze und Gepflogenheiten an, doch als er sie mir erklärte, wurde mir bewußt, daß er in seiner richterlichen Praxis sich mehr auf den Aberglauben der Leute und seine eigenen launischen Einfälle verließ.
»So habe ich zum Beispiel eine Glocke, die einen Dieb von einem ehrlichen Mann unterscheiden kann. Angenommen, irgend etwas ist gestohlen worden, und es gibt eine ganze Menge von Verdächtigen, dann fordere ich jeden einzelnen auf, durch einen Vorhang hindurchzugreifen und die dort verborgene Glocke zu berühren, die bei der Berührung durch den Schuldigen anfängt zu läuten.«
»Ja, und tut sie das?« fragte ich skeptisch.
»Selbstverständlich nicht. Aber sie ist mit Tintenpulver eingeschmiert. Hinterher sehe ich mir die Hände der Verdächtigen an. Der mit sauberen Händen ist der Dieb - derjenige, der Angst hatte, die Glocke zu berühren.«
»Genial!« murmelte ich, ein Wort, das ich hier in Manzi noch oft gebrauchen sollte.
»Ach, die Urteilsfindung ist gar nicht so schwierig. Wo man sich wirklich etwas einfallen lassen muß, das sind die Urteile und die Strafen. Angenommen, ich verurteile diesen Dieb dazu, im Gefängnishof ein Joch zu tragen, einen schweren Holzkragen, ähnlich wie die steinernen Anker an der
Promenade; dieser wird ihm um den Hals gelegt, und er muß im Gefängnishof sitzen, wo alle Vorübergehenden ihn mit Hohn und Spott übergießen. Angenommen, ich verfüge, daß er diese Unannehmlichkeit und diese Demütigung für, sagen wir, zwei Monate zu ertragen hat. Nur weiß ich selbstverständlich ganz genau, daß seine Familie die Gefängniswärter bestechen wird, damit diese ihm den Halskragen nur dann umlegen, wenn sie wissen, daß ich beim Betreten oder Verlassen des Hofes an ihm vorüberkomme. Um zu gewährleisten, daß er auch wirklich entsprechend bestraft wird, verurteile ich ihn daher zu sechs Monaten Joch.«
»Bedient Ihr Euch«, erkundigte ich mich zögernd, »bedient Ihr Euch für die größeren Missetäter auch eines Liebkosers?«
»Aber ja doch, und eines sehr guten dazu«, erklärte er fröhlich. »Mein eigener Sohn, der sich auf das Studium der Gesetzeskunde vorbereitet, geht im Augenblick zum Liebkoser in die Lehre. Um ihm sein Gewerbe beizubringen, hat der Meister den jungen Fung jetzt seit einigen Wochen Pudding schlagen lassen.«
»Wie bitte?«
»Es gibt eine Strafe, die heißt chou-da; dabei wird ein Schwerverbrecher mit einem zhu-gan-Rohr, das am einen Ende zu einer vielschnurigen Geißel aufgespalten worden ist, gepeitscht. Ziel dieser Behandlung ist es, die schlimmsten Schmerzen zuzufügen und die inneren Organe zu zerfetzen, ohne eine sichtbare Verstümmelung zu hinterlassen. Deshalb muß der junge Fung, ehe ihm erlaubt wird, chou-da an einem Menschen auszuüben, lernen, einen Pudding zu zertrümmern,
ohne seine Oberfläche zu verletzen.«
»Gèsu! Ich meine, interessant!«
»Nun, gewiß gibt es Strafarten, die bei der gaffenden Menge beliebter sind -und einige selbstverständlich auch weniger. Das hängt alles von der Schwere des Verbrechens ab. Das Aufsetzen eines Brandzeichens im Gesicht. Zurschaustellung im Käfig.
Knien auf Ketten mit schneidenden Kettengliedern. Einflößen der Arznei, die augenblickliches Altern zur Folge hat. Frauen haben ein besonderes Vergnügen daran zuzusehen, wie gerade dies einer anderen Frau verabreicht wird. Und noch etwas, das besonders bei Frauen beliebt ist, ist das An-den-Beinen-Aufhängen einer Ehebrecherin und sie mit siedendem Öl oder geschmolzenem Blei aufzufüllen. Außerdem gibt es Strafen, deren Namen für sich sprechen: das Brautbett, die Liebevolle Schlange, der Affe, der einen Pfirsich trockenlutscht. Ich habe mir selbst vor kurzem eine sehr interessante Strafe ausgedacht, wenn ich das in aller Bescheidenheit bemerken darf.«
»Und worin besteht die?«
»Es ging um einen Brandstifter, der gerade das Haus eines Feindes in Brand gesteckt hatte. Zwar mißlang es ihm, den Feind persönlich zu treffen, denn dieser war gerade auf Reisen gegangen, doch die Gattin und die Kinder kamen bei diesem Brand um. Deshalb verhängte ich eine Strafe, die dem Verbrechen angemessen war und entsprach. Ich wies den Liebkoser an, Nasenlöcher und Mund des Mannes mit huo-yao-Pulver vollzustopfen, beides fest mit Wachs zu verschließen und -ehe der Schuldige erstickte oder sonst keine Luft mehr bekam die Dochte zu entzünden, so daß sein Kopf in
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