Marco Polo der Besessene 2
-leider jedoch an einem Tag, da so dichter Nebel herrschte, daß ich die Pracht der großen Stadt nicht bewundern konnte. Allerdings erlaubte mir der Nebel zu begreifen, warum der Hund auf der gektirme mitfuhr. Einer der Söhne prügelte ihn regelmäßig mit einem Stock, während wir vorsichtig durch den Nebel krochen, und der Hund bellte und knurrte und jaulte ununterbrochen. Ich konnte rings um uns her andere unsichtbare Hunde ähnlich jaulen hören, und unser Kapitän an der Ruderpinne spitzte die Ohren und lauschte auf die Geräusche. Mir ging auf, daß das Hundeprügeln ein anerkanntes Nebelwarnsystem darstellte, ähnlich wie in Venedig das Läuten der Schiffsglocke.
Unsere plumpe gektirme tastete sich ohne Zusammenstoß quer über das Goldene Horn bis unter die Stadtmauern. Unser Kapitän sagte uns, er fahre zum Anlegeplatz Sirkeci, wo Fischerboote erlaubt seien, doch mein Vater bewog ihn, uns nach Phanar zu bringen, dem Viertel der Venezianer in Konstantinopel. Und irgendwie schaffte er es trotz des dichten Nebels und obwohl er Konstantinopel seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen hatte, den Kapitän dorthin zu dirigieren. Inzwischen ging irgendwo hinter dem Nebel die Sonne unter, und mein Vater fieberte vor Ungeduld und brummte: »Wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit nicht hinkommen, müssen wir noch eine Nacht auf diesem elenden Boot verbringen.« Daß wir an einem hölzernen Landesteg festmachten, muß mit der Abendstunde genau zusammengefallen sein. Wir beide verabschiedeten uns überstürzt von den Griechen, halfen Onkel Mafìo an Land, und mein Vater führte uns in einer Art Altmännertrab durch das Labyrinth von gewundenen und verstopften Gassen.
Endlich gelangten wir zu einem der vielen, eines wie das andere aussehenden Häusern mit den schmalen Fassdaden, wobei dieses zu ebener Erde ein Kontor aufwies, und mein Vater stieß einen frohen Schrei aus -»Nostra compagnia!«-, als er drinnen noch Licht brennen sah. Er machte die Tür auf und ließ mich und Mafìo eintreten. Ein weißhaariger Mann beugte sich über ein aufgeschlagenes Hauptbuch auf einem Pult mit vielen anderen dicken Büchern darauf und schrieb im Schein einer Kerze, die zu seinem Ellbogen stand. Er sah auf und knurrte :
»Gèsu, spuzzolenti sardòrni!«
Das waren die ersten venezianischen Worte, die ich nach dreiundzwanzig Jahren von jemand anderem als Nicolo oder Mafìo Polo hörte. Und so -als »stinkende Anchovis« -wurden wir von meinem Onkel Marco Polo begrüßt.
Dann jedoch, wie vom Donner gerührt, erkannte er seine Brüder -»Xestu, Nico? Mafio? Tati!« -, und er sprang behende von seinem Stuhl auf, und die Schreiber der Compagnia an den Schreibpulten ringsum blickten voller Verwunderung auf unser
Gewirr von abrazzi und Schultergeklopfe und Händeschütteln und Gelächter und Tränen und Ausrufen:
»Sangue de Bacco!« bellte er. »Che bon vento? Aber ihr seid ja beide ganz grau geworden, meine Tati!«
»Und du schlohweiß, Tato!« bellte mein Vater zurück.
»Und warum habt ihr so lange gebraucht? Eure letzte Sendung brachte auch deinen Brief, in dem du schriebst, daß ihr unterwegs wäret. Aber das war vor fast drei Jahren.«
»Ach, Marco, frag nicht! Uns hat der Wind die ganze Reise über ins Gesicht geblasen.«
»E cussì?? Ich erwartete euch auf juwelenstrotzenden Elefanten -I Re Magi, die im Triumphzug aus dem Morgenland kommen und denen trommelschlagend nubische Sklaven vorangehen. Und da kommt ihr bei Nacht und Nebel heimgeschlichen und stinkt wie eine Sirkecier-Hure zwischen den Beinen!«
»Aus seichtem Wasser, unbedeutende Fische. Wir kommen ohne einen Taler hier an, ausgeplündert und völlig abgerissen. Wir sind Gestrandete, die an deine Türschwelle geschwemmt wurden. Aber darüber wollen wir später reden. Hier, du hast deinen Namensvetter und Neffen nie kennengelernt.«
»Neodo Marco! Arcistupendonazzìsimo!« So wurde auch ich kräftig in die Arme geschlossen und willkommen geheißen und bekam den Rücken geklopft. »Aber unser tonazzo Tato Mafìo, für gewöhnlich so lärmend. Warum so schweigsam?«
»Er ist krank gewesen«, sagte mein Vater. »Auch darüber werden wir später reden. Aber komm! Zwei Monate hindurch haben wir jetzt nichts als Anchovis zu essen bekommen und…«
»Und die haben dir einen mächtigen Durst gemacht! Sag nichts mehr!« Er wandte sich seinen Schreibern zu und sagte ihnen belfernd, sie sollten heimgehen und brauchten am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu kommen. Alle
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