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Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition)

Titel: Marcos und der Zauber des Augenblicks (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Espinosa
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Gleichgültigkeit ärgerte ihn. Wenn er gewusst hätte, dass ich in sechzehn Minuten diesem Außerirdischen gegenüberstehen würde, hätte er seinen wortkargen Passagier wahrscheinlich wesentlich spannender gefunden.
    Ich hörte auf den Ratschlag meiner Mutter bezüglich der Trilogie. Mit dreiundzwanzig Jahren malte ich den Tod, mit siebenundzwanzig die Kindheit, nur zum Sex kam ich nie.
    Ich glaube, manchmal wagt man es einfach nicht, etwas zu malen, was so tief gehen würde.
    Als ich klein war, hat meine Mutter so viel über Sex geredet, dass ich irgendwann Abscheu gegen alles hegte, was damit zu tun hatte. Nicht dass ich ihn nicht praktiziert hätte, aber ihm mit einer Farbpalette gegenüberzutreten, schaffte ich nicht.
    Der Tod dagegen war einfach zu malen. Nachdem es mir einmal gelungen war, in direkten Kontakt zu ihm zu treten. Ich habe Hunderte von Gefängnissen in amerikanischen Bundesstaaten besucht, in denen es noch die Todesstrafe gab. Dank eines in meine Mutter verliebten Gefängnisdirektors konnte ich schließlich Verbindung zu Häftlingen im Todeskorridor aufnehmen und sie befragen, was der Tod für sie darstellte. Stundenlang habe ich ihnen zugehört. Monatelang habe ich in ihren Worten nach dem Bild gesucht, das ich malen könnte. Wer kann in dieser Hinsicht hellsichtiger sein als ein zum Tode Verurteilter oder ein Sterbenskranker? Seit Jahren wissen sie um ihren Tod, harren sie seiner, ist er manchmal nur eine Handbreit von ihnen entfernt. Ich glaube, sie können sich sogar mit ihm anfreunden, wenn auch auf begrenzte Zeit.
    Ich entschied mich für Häftlinge statt für Kranke, weil ich dachte, der Tod würde sich ohne die physischen Schmerzen klarer abzeichnen und nicht mit anderen Gefühlen vermischt werden, die beinahe unmöglich wiederzugeben sein würden.
    Alle Gefangenen, die ich kennenlernte, machten einen unschuldigen Eindruck, ich hätte sie jederzeit begnadigt. Ich weiß nicht, warum der Tod alle Menschen so zerbrechlich, unschuldig und naiv wirken lässt.
    Und diese zum Tode Verurteilten erzählten mir so viele Geschichten, manche schrecklich düster, andere von einem unglaublichen Licht erfüllt. Einer von ihnen hieß David. David sollte wegen der Vergewaltigung und Ermordung seiner beiden Schwestern hingerichtet werden. Er durfte sich eine Henkersmahlzeit wünschen, ein sonderbares Ritual, das in all diesen Gefängnissen nach wie vor gepflegt wird. Ein absurdes Entgegenkommen.
    David wollte nichts Besonderes, nur Sahneeis mit Nüssen. Doch als sie es ihm auf einem nichtssagenden blauen Tablett brachten, erkannte ich, dass dies der Tod war. Ich musste nur Davids letzten Willen malen.
    Und so griff ich nach meinem Pinsel und malte dieses Eis, so realistisch ich konnte. Das weiße Sahneeis, die ockerfarbenen Nüsse, das Blau des Tabletts.
    David starb. Ich war nicht dabei, dafür hatte ich zu große Zuneigung zu ihm gefasst.
    Aus dem Bild sprach der Tod, wie meine Mutter sagte.
    Ich ertrug seinen Anblick nicht, und so schenkte ich es einem alten Freund. Und im Leben könnte ich kein Sahneeis mit Nüssen mehr essen. Wenn ich es versuche, kommt es mir vor, als bringe der Tod mich zum Würgen.
    Die Kindheit war wesentlich einfacher zu malen. Ich weiß noch, dass meine Mutter immer sagte, es sei eine Lüge, diese Zeit als die glücklichste unseres Lebens zu bezeichnen. Niemals weine man mehr und sei untröstlicher als in diesen ersten Lebensjahren. Kindheit sei tonnenweise Traurigkeit, durchsetzt mit kiloweise Glück. Die zweischneidigste Phase unseres Lebens.
    Das inspirierte mich. Ich malte kleine Kinder, denen Spielzeug geschenkt und kurz darauf wieder weggenommen wurde. Ich bemühte mich um die glaubwürdigsten Tränen, das heftigste Schluchzen, die das leuchtende Glück und Lächeln auf den Gesichtern ablösten. Und mir gelang ein tatsächlich beunruhigendes Bild. Höchstes Glück und tiefste Traurigkeit, die Kindheit in ihrem Reinzustand. Meine Mutter war unglaublich stolz auf mich. Sie umarmte mich so fest, dass ich spürte, wie unsere Speiseröhren verschmolzen, und wisperte mir zu:
    »Der Sex, Marcos, jetzt ist der Sex dran! Male ihn!«
    Der Sex. Ich konnte mich nicht dazu entschließen, ihn zu malen. Ich glaube, meine Mutter hat mir das nie verziehen. Sie begann, meine Malerei zu ignorieren. Ich versprach ihr, die Trilogie zu vollenden, doch seitdem sind dreizehn Jahre vergangen, und ich hatte das Ganze beinahe völlig vergessen.
    In wenigen Stunden würde ihr Leichnam eintreffen und

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