Margaret Mitchell
haben alle Straßen, alle Pfade und Reitwege besetzt außer der
Straße nach McDonough. Atlanta ist wie ein Sack, und von Jonesboro aus kann er
zugeschnürt werden. Wenn die Yankees die Eisenbahn kriegen, ziehen sie an der
Schnur, und wir sitzen in der Falle. Mag sein, daß ich eine Zeitlang
fortbleibe, Kinder. Ich wollte euch nur Lebewohl sagen und mich davon
überzeugen, daß ihr beisammen seid.«
»Selbstverständlich
sind wir beisammen«, sagte Melly liebevoll, »mach dir um uns keine Gedanken und
habe auf dich selber acht.«
Onkel
Henry trocknete sich die nassen Füße auf dem Flickenteppich und stöhnte, als er
die zerlumpten Schuhe wieder anzog.
»Ich muß
aufbrechen«, sagte er, »denn ich habe fünf Meilen zu laufen. Scarlett, du
packst mir wohl ein bißchen Frühstück ein, wenn ihr etwas habt.«
Als er
Melanie den Abschiedskuß gegeben hatte, ging er zu Scarlett hinunter in die
Küche, wo sie ein Maisbrot und einige Äpfel in eine Serviette wickelte.
»Onkel
Henry ... steht es ... steht es denn wirklich so ernst?«
»Allmächtiger
Gott, sei keine Gans, es geht ums Letzte.«
»Meinst
du, sie kommen nach Tara?«
Onkel
Henry ärgerte sich über ihren Weibersinn, der an das Persönliche dachte, wenn
das Ganze auf dem Spiele stand. Aber ihr schmerzerfülltes Gesicht besänftigte
ihn wieder. »Wie werden sie denn! Tara liegt fünf Meilen von der Eisenbahn
entfernt, und nur auf die Eisenbahn haben die Yankees es abgesehen. Du hast
auch nicht mehr Verstand als ein Maikäfer.« Schroff brach er ab. »Ich bin heute
nacht den ganzen Weg nicht nur hierhergekommen, um euch Lebewohl zu sagen. Ich
habe eine schlechte Nachricht für Melanie, aber als ich dann bei ihr saß,
brachte ich es einfach nicht fertig, es ihr zu sagen, so muß ich also dir diese
Aufgabe hinterlassen.«
»Ashley
ist doch nicht ...?«
»Zum
Teufel, was soll ich denn über Ashley wissen, wenn ich im Schützengraben bis
zum Hosenboden im Dreck stehe«, rief der alte Herr ärgerlich. »Nein. Es ist
sein Vater. John Wilkes ist tot.«
Scarlett
setzte sich nieder, das halb eingewickelte Frühstück in der kraftlosen Hand.
»Du mußt
es Melly sagen, und gib ihr dies.«
Aus der
Tasche zog er eine schwere goldene Uhr mit daranhängendem Petschaft, ein
kleines Miniaturbildnis der längst verstorbenen Mrs. Wilkes und ein Paar
massive Manschettenknöpfe, Als Scarlett die Uhr erblickte, die sie tausendmal
in John Wilkes' Hand gesehen hatte, begriff sie erst völlig, daß Ashleys Vater
tot war. Sie konnte weder weinen noch ein Wort hervorbringen. Onkel Henry wurde
verlegen, hustete und vermied es, sie anzuschauen. »Er war ein tapferer Mann,
Scarlett, sag das Melly, und sie soll es den Mädels schreiben. Eine Granate hat
ihn erwischt, ihn und sein Pferd. Ich habe das Pferd selbst totgeschossen, das
arme Tier. Eine schöne kleine Stute war es. Du solltest auch Mrs. Tarleton
darüber schreiben, sie hat soviel von der Nellie gehalten. Pack mein Frühstück
ein, ich muß gehen. Nimm es nicht so schwer. Gibt es einen schöneren Tod für
einen alten Mann, als zu sterben, während er die Arbeit eines Jünglings
verrichtet?«
»Ach, er
hätte nicht mitgehen sollen. Leben hätte er sollen und sein Enkelkind
heranwachsen sehen und friedlich im Bett sterben. Ach, er hielt nichts von der
Lossagung der Staaten und haßte den Krieg!«
»Viele von
uns denken so, aber was hilft es?« Onkel Henry schneuzte sich. »Meinst du, mir
ist es ein Genuß, in meinem Alter den Yankees als Schießscheibe zu dienen? Aber
ein Gentleman hat keine Wahl. Küß mich, mein Kind, und mach dir keine Sorgen um
mich.«
Scarlett
küßte ihn und hörte ihn die Stufen hinunter in die Finsternis gehen. Sie hörte
das Gartentor zuschnappen. Einen Augenblick betrachtete sie die Andenken, die
sie in der Hand hatte. Dann ging sie hinauf, um es Melanie zu sagen.
Ende Juli
kam die Nachricht, daß die Yankees auf Jonesboro marschierten. Sie hatten die
Eisenbahn vier Meilen unterhalb der Stadt abgeschnitten, waren aber von der
konföderierten Reiterei wieder verjagt worden, und die Pioniere brieten jetzt
in der Sonne, um die Schienen auszubessern.
Scarlett
war außer sich vor Angst. Drei Tage wartete sie in immer steigender Erregung,
dann kam endlich ein beruhigender Brief von Gerald. Der Feind hatte Tara nicht
erreicht. Sie hatten den Schlachtenlärm gehört, aber keine Yankees gesehen. Der
Brief berichtete von der Vertreibung der Yankees so schwungvoll, als sei es
Gerald, der die Heldentat
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