Mars-Trilogie 2 - Grüner Mars
Mittag war es auf dem Gletscher hell, als ob Teile des zerbrochenen Spiegels überall das Sonnenlicht darauf reflektierten. Eisstücke knirschten unter den Füßen. Kleine Rinnsale vereinigten sich zu tief eingebetteten Strömen, die jäh in Löchern im Eis verschwanden. Diese Löcher hatten wie die Spalten mannigfache Schattierungen von Blau. Die Rippen der Moräne schimmerten wie Gold und schienen in der zunehmenden Wärme zu hüpfen. Irgend etwas an dem Anblick erinnerte Sax an den Soletta-Plan, und er pfiff durch die Zähne.
Er richtete sich auf und reckte seinen Rücken. Er fühlte sich sehr lebendig und wißbegierig, absolut in seinem Element. Der Wissenschaftler bei seiner Arbeit. Er lernte die immer frische primäre Bemühung von >Naturgeschichte< zu schätzen, ihre nahe Beobachtung von Dingen in der Natur: Beschreibung, Einordnung, Taxonomie - der erste Versuch zu erklären oder vielmehr dessen erster Schritt, einfach zu beschreiben. Wie glücklich waren ihm immer die Naturhistoriker vorgekommen in ihren Schriften - Linne und sein wildes Latein, Lyell und seine Steine, Wallace und Darwin und ihr großer Schritt von Kategorie zu Theorie, von Beobachtung zu Paradigma. Sax konnte das fühlen, gerade hier auf dem Arenagletscher im Jahre 2101, mit all den neuen Spezies, diesem blühenden Prozeß von Spezifikation, der halb menschlich und halb zum Mars gehörig war - einem Prozeß, der später seine eigenen Theorien erfordern würde, irgendeine Art von Evo-Historie, von historischer Evolution oder Okopoesis oder einfach Marskunde, Areologie. Oder vielleicht Hirokos Viriditas. Theorien des Terraformungsprojekts - nicht nur, was es anstrebte, sondern wie es wirklich funktionierte. Genaugenommen eine Naturgeschichte. Sehr wenig von dem, was geschah, konnte mit experimenteller Laborwissenschaft studiert werden. Darum würde die Naturgeschichte auf ihren Platz unter den Wissenschaften zurückfinden müssen als eine unter gleichen. Hier auf dem Mars waren alle Arten von Hierarchien zum Fall verurteilt; und das war keine sinnlose Analogie, sondern einfach eine präzise Beobachtung von dem, was alle sehen konnten.
Was alle sehen konnten. Würde er das verstanden haben vor seiner Zeit hier draußen? Würde Ann verstehen? Während er auf die wilde zerklüftete Fläche des Gletschers blickte, stellte er fest, daß er an sie dachte. Jede kleine Scholle und Spalte ragte hervor, als hätte er noch die zwanzigfache Vergrößerung eingeschaltet, aber mit unendlicher Tiefenschärfe. Jede Tönung von Elfenbein und Rosa in den eingebuchteten Flächen, jeder spiegelnde Schimmer von Schmelzwasser, die buckligen Hügel am fernen Horizont - alles war in diesem Augenblick chirurgisch klar und scharf. Und er hatte den Eindruck, daß sein Sehvermögen nicht eine Sache des Zufalls war (zum Beispiel der Linsenwirkung von Tränen über seiner Hornhaut), sondern das Ergebnis eines neuen zunehmenden Verständnisses der Landschaft. Es war eine Art kognitiver Vision, und er konnte nicht umhin, sich zu erinnern, daß Ann ärgerlich zu ihm gesagt hatte: Mars ist der Ort, den du nie gesehen hast.
Er hatte das als eine Redeweise verstanden. Aber jetzt dachte er an Thomas Kuhn, der versicherte, daß Wissenschaftler, die unterschiedliche Paradigmen benutzten, in wortwörtlich unterschiedlichen Welten existierten, und daß Epistemologie eine so integrale Komponente der Realität wäre. So haben Aristoteliker das Galileische Pendel einfach nicht gesehen, das für sie ein mit einiger Schwierigkeit fallender Körper war. Und allgemein redeten Wissenschaftler, die über die relativen Verdienste konkurrierender Paradigmen diskutierten, einfach aneinander vorbei, indem sie die gleichen Wörter für unterschiedliche Realitäten benutzten.
Auch das hatte er für eine Redewendung gehalten. Wenn er aber jetzt, absorbiert in der Klarheit des Eises, darüber nachdachte, mußte er zugeben, daß es bestimmt das beschrieb, wie Ann immer empfunden hatte. Es war für sie beide eine Enttäuschung gewesen; und als Ann geschrien hatte, er habe nie den Mars gesehen, eine Feststellung, die in verschiedener Hinsicht offenbar falsch war, hatte sie vielleicht nur sagen wollen, daß er ihren Mars nicht gesehen hätte, den Mars, welchen ihr Paradigma geschaffen hatte. Und das war ohne Zweifel richtig.
Aber jetzt sah er einen Mars wie nie zuvor. Nur war die Verwandlung dadurch gekommen, daß er sich wochenlang gerade auf jene Teile der Landschaft des Mars konzentriert hatte,
Weitere Kostenlose Bücher