Marschfeuer - Kriminalroman
Vaters übernehmen wollte. Nein. Sie
hätte nur niemals Paul sein können, solange er lebte. Er hätte es nicht
verstanden. Nun, ich habe sie von da an Paul genannt. Denn sie wäre gegangen,
und ich wollte sie nicht verlieren. Wir sind umgezogen. Äußerlich war sie dort
kein Mädchen mehr. Sie hat sich ihre Brüste fest umwickelt, damit sie nicht
auffielen … Schon während Pauls Ausbildung bin ich mit ihm von Pontius zu
Pilatus gelaufen, wir haben uns über Geschlechtsumwandlungen informiert, über
das Wie und Wo.«
Sie machte eine Pause.
»Wissen Sie eigentlich, was ein Mensch, der in einem falschen Körper steckt, in
seinem Leben erduldet? Oder besser gesagt: erleidet? Schon als Kind das Gefühl,
nicht normal zu sein. Anders zu sein. Das Grauen der Pubertät, wenn die Brüste
kommen, die man hasst, die Menstruation … Der Hohn und der Spott der anderen
Jugendlichen. Welche Hindernisse ihm in den Weg gelegt werden, bevor er die
Chance auf Änderung dieses … dieses Irrtums der Natur bekommt?«
Ihre Lippen begannen in
Erinnerung an frühere Zeiten zu beben. »Immer wiederkehrender Seelenstriptease
vor all den Gutachtern, Behörden … lebenslange Hormoneinnahme, Brust ,
Eierstock-und Gebärmutterentfernung, all die Operationen …« Sie sah Wilfried
an. »Paul hat das alles ohne ein Wort der Klage auf sich genommen. Er hat sich
sogar für ein Penoid entschieden.«
»Penoid?« Trotz der
Frage sah Wilfried nicht aus, als wolle er die Antwort wirklich hören.
»Ein Penisimplantat.«
Dora Lindmeir sprach darüber wie über das Wetter. »Er hat sich schon vor vielen
Jahren aus seinem Unterarmgewebe einen Penis formen lassen. Diesen großen
Aufbau lässt wegen der Komplikationen lange nicht jeder Transmann über sich ergehen.
Paul schon.«
Lyn blickte zu Wilfried,
der einen undefinierbaren Laut von sich gab, bevor seine Hände sich automatisch
Richtung Schoß bewegten. Die Vorstellung eines »großen Aufbaus« behagte ihm
augenscheinlich nicht.
»Daher die große Narbe
an seinem Unterarm«, wandte Lyn sich an Paul Lindmeirs Mutter. »Mir hat er
erzählt, sie stamme von einem Fahrradunfall.«
»Er musste sich immer
irgendetwas einfallen lassen. Es sollte ja niemand erfahren.«
Dora Lindmeir strahlte
eine große Stärke und Ruhe aus. In Anbetracht der Umstände eine geradezu
unnatürliche Ruhe. »Paul strebte die Perfektion an«, schloss sie ihre
Ausführungen. »Er ist mit Herz und Seele und Körper ein Mann.«
Lyn hütete ihre Zunge,
aber innerlich stimmte sie Dora Lindmeir zu. Kaum eine Frau wäre zu all den
eiskalt geplanten Grausamkeiten fähig gewesen.
»Operationen bedeuten
Krankenhausaufenthalte«, sagte Wilfried. »Konnte er das immer verheimlichen? In
der Firma? Vor den Jacobsens? Vor Freunden? Das erscheint mir so unglaublich.«
Dora Lindmeir sah ihn
mit festem Blick an. »Als er vor sechsundzwanzig Jahren nach Beidenfleth kam,
war er rechtlich ein Mann. Alle Papiere waren entsprechend geändert. Wer also
hätte es hier herausfinden sollen? Seine Operationen– auch die späteren– hat
Paul immer im Urlaub ausführen lassen. Was glauben Sie, wie viele Transsexuelle
unerkannt leben? Darum geht es diesen Menschen doch! Ein normales, friedliches
Leben zu führen. Anerkannt zu sein, in dem richtigen Körper … Außer Corinna
wusste niemand Bescheid. Auch Markus weiß es nicht. Noch nicht«, fügte sie bitter hinzu.
»Ihre Schwiegertochter …
sie konnte … also, ich meine … diese Tatsache war für sie okay?«
Lyn hatte ihren Chef
noch nie so stammeln gehört.
»Paul hatte vor Corinna
nur sehr kurze Beziehungen. Sobald die Frauen erfuhren, dass er einmal eine
Frau war, haben sie sich sofort abgewandt. Corinna nicht. Sie hat Paul geliebt.
Von der ersten Minute an bis zu ihrer letzten.« Tränen schossen erneut in Dora
Lindmeirs Augen. »Sie musste viel zu früh gehen.«
»Die Adoption …«,
dämmerte es Lyn. »Es lag gar nicht an ihrer Schwiegertochter, dass die beiden
keine eigenen Kinder haben konnten.« Sie blickte Dora Lindmeir an. »Ihr Sohn
war natürlich zeugungsunfähig.«
Die nickte. »Ja. Aber
ein Kind war der Herzenswunsch von beiden.« Sie begann den Ehering an ihrem
Finger zu drehen. »Und darum habe ich mich so gefreut, als dem Adoptionsantrag
stattgegeben wurde. Sie … sie waren einfach eine kleine, glückliche Familie.«
»Frau Lindmeir«,
Wilfrieds Stimme klang wieder klar und deutlich, »hat Ihr Sohn Hinrich Jacobsen
getötet?«
Sie sah ihn nur an und
schwieg.
Ein lautes
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