Mary Poppins
doch noch rechtzeitig zum Barbier käme. >Folge mir!<
Er ging in den Garten voraus, und die Rote Kuh und die Hofschranzen folgten.
>So<, sagte der König, als er den großen Rasenplatz erreicht hatte, >wenn ich dir mit der Pfeife das Zeichen gebe – dann spring!<
Er zog seine große, goldene Pfeife aus der Tasche und blies leicht hinein, um sich zu überzeugen, daß kein Staub darin war. Die Rote Kuh umtanzte ihn mit gespannter Aufmerksamkeit.
>Jetzt – Eins!< rief der König.
>Zwei!<
>Drei!<
Dann ertönte schrill das Pfeifensignal.
Die Rote Kuh holte einmal tief Atem und setzte an zu einem gewaltigen Sprung. Die Erde blieb unter ihr zurück. Sie sah, wie die Gestalten des Königs und der Hofschranzen kleiner und kleiner wurden, bis sie zuletzt ganz verschwanden. Sie selber schoß in den Himmel hinauf. Die Sterne wirbelten um sie herum wie goldene Teller, und geblendet von einem scharfen Licht, fühlte sie auf einmal die kalten Mondstrahlen auf ihrer Haut. Sie schloß die Augen, während sie über den Mond hinwegflog, und als der verwirrende Glanz hinter ihr lag und sie den Kopf zur Erde niederbeugte, spürte sie, wie der Stern von ihrem Horn glitt. Laut aufrauschend flog er davon und rollte die Milchstraße hinunter. Und ihr war, als ginge von ihm, während er in der Dunkelheit verschwand, ein herrlich klingender Ton aus, der in den Lüften widerhallte.
Kurz darauf war die Rote Kuh wieder auf der Erde gelandet. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, daß sie nicht im Garten des Königs stand, sondern auf ihrer alten Löwenzahnwiese.
Und das Tanzen hatte aufgehört! Ihre Füße waren so ruhig, als wären sie aus Stein, und sie wandelte gelassen einher wie jede andere ehrbare Kuh. Geruhsam und friedlich bewegte sie sich über die Wiese und köpfte auf dem Weg zum Roten Kalb ihre golden leuchtenden Soldaten.
>Schön, daß du wieder da bist!< rief das Rote Kalb. >Ich war so allein!<
Die Rote Kuh gab ihm einen Kuß und begann behaglich zu fressen. Dies war die erste richtige Mahlzeit seit einer Woche. Und als ihr Hunger endlich gestillt war, hatte sie ganze Regimenter aufgefressen. Danach ging es ihr wieder besser. Sie begann auch bald wieder ihr Leben so zu führen wie bisher. Anfangs genoß sie den stillen, regelmäßigen Tageslauf und war froh, daß sie frühstücken konnte, ohne zu tanzen, daß sie sich ins Gras legen und des Nachts schlafen konnte, anstatt bis in den Morgen vor dem Mond zu scharwenzeln. Aber nach einer Weile fühlte sie sich unbehaglich und unzufrieden. Ihre Löwenzahnwiese und ihr Rotes Kalb waren ja ganz schön, aber sie sehnte sich nach etwas anderem und kam nicht darauf, was es war. Schließlich wurde ihr klar, daß sie ihren Stern vermißte. Sie war so ans Tanzen und an das glückliche Gefühl gewöhnt, das der Stern in ihr erweckt hatte, daß sie sich nach dem Matrosentanz sehnte und danach, ihren Stern wieder am Horn zu tragen.
Sie grämte sich und verlor den Appetit, ihre Laune war abscheulich. Und oft genug brach sie ohne jeden ersichtlichen Grund in Tränen aus. Schließlich kam sie zu meiner Mutter und erzählte ihr die ganze Geschichte und fragte sie um ihren Rat.
>Lieber Himmel!< sagte meine Mutter zu ihr. >Du glaubst doch nicht, meine Liebe, daß nur einmal ein Stern vom Himmel gefallen ist! Wie ich höre, fallen jede Nacht wer weiß wieviel Sterne. Aber sie fallen natürlich auf die verschiedensten Plätze. Du kannst nicht erwarten, daß in einem Leben zwei Sterne auf die gleiche Wiese fallen.<
>Du glaubst also – wenn ich ein Stückchen umherwandere…?< begann die Rote Kuh, und ein glückliches, begieriges Leuchten erwachte in ihren Augen.
>Ich an deiner Stelle – ich würde mir einen Stern suchen gehen<, sagte meine Mutter.
>Das mach ich<, sagte die Rote Kuh freudig, >das mach ich bestimmte<
Mary Poppins verstummte.
»Und deshalb, glaube ich, kam sie den Kirschbaumweg entlang«, flüsterte Jane andächtig.
»Ja«, wisperte Michael, »sie suchte nach ihrem Stern.«
Mit einem kleinen Ruck richtete sich Mary Poppins auf. Der verträumte Blick war aus ihren Augen verschwunden (und die Regungslosigkeit aus ihren Gliedern).
»Komm sofort vom Fenster herunter, mein Junge!« sagte sie barsch. »Ich werde Licht machen.« Und sie eilte zum Treppenabsatz, wo sich der Schalter befand.
»Michael«, flüsterte Jane vorsichtig. »Sieh noch einmal hinaus und schau nach, ob die Kuh noch da ist.«
Geschwind spähte Michael in die wachsende Dunkelheit.
»Schnell!«
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