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Matharis Kinder (German Edition)

Matharis Kinder (German Edition)

Titel: Matharis Kinder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernadette Reichmuth
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zuckende Widerschein der Flammen, der diesen Eindruck hervor rief.
    Torian, Pariko und Moyna wurden zu einer roh behauenen Bank rechts des blauen Feuers geleitet.     
    Gleich darauf kündigte das Dröhnen eines Gongs den Beginn der Verhandlung an.
    Die verebbenden Schallwellen gingen in ein tiefes Summen über. In Torians Gehirn blitzte die irrwitzige Vorstellung auf, ein Schwarm aufgebrachter Feuer bienen hätte sich in die Mitte dieses Berges verirrt. Das auf und ab schwellende Summen schien von überall her zu kommen. Es formierte sich zu einem Chor gestaltloser, wispernder Stimmen.  
    Plötzlich schienen die Wände, die Säulen, ja, selbst das weit entfernt rauschende Wasser über die Gabe des Sprechens zu verfügen. Geisterhaft waberten Worte durch die kühle, feuchte Luft.
    „Das Volk von Lopunien verlangt das Gerechte Urteil. Wer ist es, dessen Herz geprüft werden soll?“ 
    Die ausgetrockneten Kehlen der Alten hatten längst ver lernt, weithin hörbare Laute zu formen. Ein Rufer, dessen Gestalt im Schatten verborgen blieb, war beauftragt worden, für sie zu antworten. Seine, tiefe volltönende Stimme drang bis in den hintersten Winkel der Halle: 
    „Er nennt sich Janael. Er war der Letzte Auserwählte , und er hat seinen Platz verlassen, obwohl er noch am Leben war.“
    „Er ist noch am Leben – und ist nun zurückgekommen. Ist er zurückgekommen, um seine Aufgabe wieder aufzunehmen?“
    „Er ist heimlich und unerkannt in unser Land  gekommen. Er wollte Blumensamen von uns mitnehmen für die zerstörte Heimat seiner beiden Freunde, die mit ihm gereist sind. Und er wollte heimlich und unerkannt ein zweites Mal fortgehen.“
    Mit Fäusten, an denen die Knöchel weiß hervor traten, hielt sich Torian an dem Holz der Bank fest, um nicht aufzuspringen und dazwischen zu rufen. Was ihn zurückhielt, war allein die Gewissheit, dass er damit seinem Freund kaum einen Dienst erwiesen hätte.
    Die geisterhaften Stimmen schwiegen lange. 
    Nur das Rauschen des Wassers war zu hören.
    Endlich kündigte das Summen die Rückkehr der „Flüsternden Stimmen“ an.
    „Du hast gehört, was über dich gesagt wurde, Janael, Auserwählter. Du weißt, dass ein Auserwählter das bleibt, wozu er gerufen wurde. Bis zu seinem letzten Atemzug. Warum hast du deinen Platz vor der Zeit verlassen?“
    Janaels Geist wanderte zurück in die Ver gangenheit. Zurück in die Zeit, wo er als Geschichtenerzähler und Hoffnungsträger durch das Land gezogen war. Das war die Aufgabe eines Auserwählten: von Ort zu Ort zu ziehen, alle die mutigen, schrecklichen und traurigen Geschichten zu den Brüdern und Schwestern zu tragen. Damit diese wussten, sie waren nicht allein. Andere kämpften und litten ebenso wie sie. Selbst die traurigsten und schrecklichsten Geschichten erzählten von Mut und Tapferkeit. Sie verbanden die einzelnen Knoten der verstreuten, mit dem Starrsinn der Verzweiflung ausharrenden Siedlungen zu einem Netz, in dem sie gehalten waren.  
    Schaudernd näherte Janael sich schließlich jener Nacht, in der das Buch seines Lebens zugeschlagen worden war. Er war nicht gestorben dabei. Sein Körper hatte überlebt. Eine Zeit lang war er sich nicht sicher gewesen, ob außer seinem Körper noch etwas überlebt hatte.
    Sein Lebensbuch hatte er nicht mitgenommen auf seine Flucht. Es war zurückgeblieben hier in dieser Höhle; hier hatte es darauf gewartet, noch einmal geöffnet zu werden, damit das letzte, abgebrochene Kapitel endlich zu seinem Schluss kam. 
    Wie sollte er beginnen? Wie konnte er Worte finden für etwas, vor dem dreißig Jahre lang sogar seine Gedanken zurückgeschreckt waren? Als er versuchte, seine Stimme zu erheben, merkte er, dass sie in seiner Kehle stecken blieb. 
    Aber er konnte es zeigen.
    Langsam begann er sein Hemd auszuziehen.
    Den Kehlen der Anwesenden entrang sich ein vielstimmiges Stöhnen. Knochige Hände fuhren aus weiten Umhüllungen empor. Sie pressten sich vor lautlos aufgerissene, ausgetrocknete Münder.
    Im flackernden Schein des Feuers erwachten Janaels Narben zu gespenstischem Leben. Wortlos begannen die über den Wülsten und Furchen hüpfenden Schatten die grauenvolle Geschichte zu erzählen. 
    Auch die „Flüsternden Stimmen“ besaßen die Gabe des Sehens. Als sich das Summen zu Worten formte, waren diese begleitet von einem trockenen Schluchzen.
    „Diese furchtbaren Zeichen an deinem Körper erzählen Unvorstellbares, Janael, Auserwählter. Wir haben kein Recht, mehr von dir

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