nickt.
«Ja», sagt sie.
Ja!
Bevor ich ins Bett gehe, hole ich mir aus der Küche zwei Becher Pudding und einen Löffel. Ich darf in meinem Zimmer nicht essen, aber ich tue es. Ich sollte mich auch mit einem Pudding am Tagbegnügen, weil der Zucker mich angeblich in Zustände versetzt. Und weil ich mich, ihr zufolge, in eine Puddingblase verwandle. Als ich die Treppe hinaufschleiche, sieht mich Pa. Seine Augen heben sich aus dem Buch. Ich bleibe ganz ruhig und versuche nicht, die Puddingbecher zu verstecken. Ich stehe einfach da und warte auf den Urteilsspruch. Doch Pa schüttelt nur den Kopf, nicht um mir das Essen zu verbieten, sondern eher, um zu sagen, was um Himmels willen sollen wir nur mit dir machen, Mathilda? Mathilda und ihre Puddingbecher.
Armer Pa, denke ich, mach dir nicht so viele Sorgen.
Ich nehme an, er hätte mich aufhalten sollen, aber Pa ist einer, der daran zugrunde gehen würde, wenn irgendjemand ihn nicht für einen guten Menschen hielte. Und genau das ist er. Ich habe beschlossen, dass Pa kein schlechtes Körnchen in sich hat. Wenn ich es recht bedenke, müsste ich sagen, Pa sei Helenes Vater und Ma der meinige. Es widert mich an, das zuzugeben, aber es ist wahr. Ich bin genauso böswillig wie Ma, das ist ein großer Teil des Problems. Obwohl Helene manchmal auf knallhart machte, war sie ein wirklich sanftes Wesen. Sie hasste Gruselfilme und laute Geräusche. Sie war in vieler Hinsicht wie ein Reh. Aber komisch, den Menschen vertraute sie. Das hatte sie definitiv von Pa. Einmal, als wir zur Schule wollten, ging Helene geradewegs auf einen klumpfüßigen, verschorften Obdachlosen zu, der sieben Meilen gegen den Wind stank, und gab ihm ihr Pausenbrot. Er hätte sie vergewaltigen oder sonst was mit ihr machen können, aber sie war total blauäugig,
tadi tada
, hier ist was Gutes, schön dick mit Schinken und Käse. Sie verschenkte mehr an Fremde, als sie mir je geschenkt hat, trotzdem wäre es gelogen, sie nicht als guten Menschen zu bezeichnen. Die Leute flogen auf sie. Lehrer, Eltern, Jungen natürlich, ja Ma und Pa verehrten sie geradezu. Obwohl mir das manchmal auf die Nervenging, war ich wahrscheinlich ihr Fan Nummer eins. Man kann sich schwer vorstellen, warum einer Lust haben sollte, jemandem wie ihr wehzutun. Aber ich glaube, die Welt ist voller Jäger und Männer, die Böses tun wollen, und es gibt immer genug Schwache, um sich einen herauszupicken.
In meinem Zimmer ziehe ich eines meiner alten Bücher aus dem Regal.
Das Tagebuch der Anne Frank
. Beim Puddingessen blättere ich es durch. Haben Sie dieses Buch gelesen? Es ist irgendwie langweilig, aber andererseits ist es das traurigste Buch der Welt. Anne schreibt die ganze Zeit über dies und jenes, bla bla bla, über Essen und Kleider und ihre blöde Familie, aber sie hat keine Ahnung, dass sie sterben wird. Das weiß nur der Leser. Der Leser ihres Tagebuchs ist wie Gott, er kann in die Vergangenheit und in die Zukunft schauen. Aber das Dumme ist, er kann nichts tun. Er ist wie Gott, aber ohne irgendeine Macht. Er kann nicht aufhalten, was passiert. Die einfachsten Sachen, wenn Anne sich zum Beispiel das Kleid ausmalt, das sie sich nach dem Krieg kaufen wird, fühlen sich wie Nadelstiche an. Da bleibt einem regelrecht die Luft weg. Als ich das Buch herauszog, hatte ich vor allem den Dachboden im Kopf. Das Versteck. Ein interessanter Plan. Und die große Frage ist, wen nimmst du mit, der dort mit dir zusammen bleiben darf? Du kannst nicht jeden einladen. Du musst auswählen.
Anna und Kevin natürlich. Und sonst, gibt es noch jemanden?, frage ich mich.
Auf einmal fällt mir Louis ein.
[email protected]. Ich könnte ihn einladen, aber ehrlich, ich weiß nicht mal, wer er ist. Außerdem frage ich mich in letzter Zeit, wo er an dem Tag war, als Helene starb.
Habe ich Desmond schon erwähnt?
Als Helenes Körper geborgen wurde, fanden sie ein paar Kleinigkeitenin ihren Taschen, darunter eine unbenutzte Fahrkarte nach Desmond. Das ist ungefähr eine Stunde entfernt. Es liegt irgendwie höher in den Bergen, wo es auch einen See gibt, hat Anna mir erzählt. Ihr Bruder war dort oben zelten, bevor er zur Armee ging.
Aber natürlich ist Helene nie in den Zug gestiegen. Der Zug nach Desmond fuhr, zehn Minuten nachdem sie gestorben war. Der andere, vor den sie gestoßen wurde, war nur ein durchfahrender Zug. Nicht einmal ihrer.
Wenn ich an den Schubser denke, bin ich froh, das Messer zu haben.
Ehrlich gesagt, tauchen im Augenblick zu viele