McDermid, Val
menschlichen Falschheit hatte ihn gelehrt, Zeugen nicht zu
vertrauen, selbst wenn sie dem Verdächtigen gegenüber deutlich feindselig
eingestellt waren. »Wir gehen einer neuen Ermittlungsrichtung nach.« Er
lächelte. Sie ließ sich dadurch nicht täuschen. »Ist schon in Ordnung. Ich
werde es dem verdammten Nigel nicht erzählen«, meinte sie, schloss das Fenster
und stellte den Motor ab. Sie öffnete die Tür und schlängelte sich heraus,
wobei ihre kurzen, aber wohlgeformten Beine Sam fast wegstießen. »Kommen Sie
mit hoch«, lud sie ihn ein.
Die Wohnung war im dritten
Stock; die ursprünglichen, mit Blei eingefassten Jugendstilfenster waren durch
eine zusätzliche Glasscheibe verstärkt, um die Geräusche von draußen zu
dämpfen. Das Wohnzimmer war wie Angela Forsythe selbst, warm, farbenfroh und
gepflegt. Er hatte den Verdacht, dass sie ihre Wirkung sorgfältig überdachte. Sie wies ihn
zu einem bequemen Polstersofa und nahm auf einem Ohrensessel ihm gegenüber
Platz. Offenbar würde weder etwas angeboten noch Smalltalk gemacht werden.
»Danuta war meine beste Freundin«, erklärte sie. »Ich vermute, dass in Ihrer
Akte steht, ich sei diejenige gewesen, die sie vermisst meldete?«
»Stimmt.«
Sie nickte und legte mit einem
leise wispernden Geräusch die Beine übereinander. »Nigel sagte, er hätte die
Polizei nicht gerufen, weil er dachte, sie hätte ihn verlassen. Angeblich hatte
es einen Abschiedsbrief gegeben, aber er sei so aufgeregt gewesen, dass er ihn
verbrannte.«
Was Sam alles schon wusste.
»Das ist nicht das, was ich wissen wollte.«
Sie hob die Augenbrauen,
strich sich das dunkle, kurz geschnittene Haar hinter ein Ohr und neigte den
Kopf zur Seite. »Nein? Das ist interessant.«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie
Harry Sim kannten.« Dieser Name ließ die routinemäßige Wachsamkeit der Rechtsanwältin
in sich zusammenfallen. »Harry Sim?-Was um Gottes willen hat denn Harry Sim
mit Danuta zu tun?« Sam hob leicht die Hände, die offenen Handflächen ihr zugewendet.
»Ms. Forsythe, ich gehe neuen Hinweisen nach. Aber ich will jetzt wirklich
keine Einzelheiten offenlegen. Nicht weil ich meine, dass Sie mit Nigel Barnes
unter einer Decke stecken könnten, sondern weil ich allgemein die Antworten der
Befragten in keiner Weise beeinflussen will. Ich wäre Ihnen also wirklich
dankbar, wenn Sie mir den Gefallen täten, meine Fragen zu beantworten, selbst
wenn sie Ihnen merkwürdig oder sinnlos vorkommen.« Er konnte sich nicht erinnern,
wann er das letzte Mal so höflich gewesen war. Carol Jordan würde ihm das hoch
anrechnen.
Sie lächelte ironisch. »Sie
machen das recht gut«, sagte sie.
»Mit etwas Übung könnten Sie
Anwalt werden. Gut, Mr. Evans, Legen Sie los. Ich werde mein Bestes tun, so
objektiv wie möglich zu antworten.«
»Woher kennen Sie Harry Sim?«
»Er arbeitete bei der
Corton-Bank. Ich war schon dort, als er dazukam, es muss also ungefähr '91 oder '92 gewesen sein. Danuta und Nigel
waren Kundenberater, und Harry war im Wertpapierhandel. Er arbeitete für beide,
er hatte mit den Guthaben ihrer Kunden zu tun.«
»Was für ein Mensch war er?«
Nachdenklich kaute Angela
Forsythe einen Moment auf ihrer Unterlippe herum. »Harry war eigentlich nicht
teamfähig. Begrenzte Fähigkeiten im Umgang mit Menschen. Das machte nicht viel
aus, weil er nicht mit dem Publikumsverkehr zu tun hatte, und er machte seine
Arbeit gut. Danuta schätzte ihn wirklich.«
»Waren sie befreundet?«
Angela hielt die Luft an und
seufzte dann. »Ich würde nicht sagen befreundet, nein. Nicht direkt. Als er
seinen Nervenzusammenbruch hatte, war Danuta unglaublich nett zu ihm. Aber
eher so, wie man es gegenüber einem entfernten Verwandten wäre, nicht
gegenüber einem Freund. Eher aus Verpflichtung als aus echter Zuneigung, wenn
Sie verstehen, was ich meine.«
Sams Antenne war ausgefahren.
»Sein Nervenzusammenbruch?«
»Warten Sie ... Es muss gegen
Ende '94 gewesen sein. Er hatte viel
Druck gehabt, um uns zu helfen, unsere Konkurrenten zu überholen, und hatte
einige schlechte, vorschnelle Entscheidungen getroffen. Harry nahm alles immer
sehr persönlich und brach einfach zusammen. Einer der Partner fand ihn
schluchzend unter dem Schreibtisch zusammengekauert. Und das war die Endstation
für den armen Harry.«
»Man hat ihn einfach
rausgeworfen?«
Angela brach in schallendes
Gelächter aus. »Lieber Gott, nein. Corton war immer unglaublich
patriarchalisch. Sie sorgten dafür, dass er die beste Pflege
Weitere Kostenlose Bücher