Meeres-Braut
Teil so wunderschön ist«, hauchte Gwenny, »wie muß dann erst das Ganze aussehen?«
»Es dürfte ein ungeheuer gewaltiger Anblick sein«, meinte Che.
Eine Weile lang blickten sie in die Tiefe, doch der große Vogel rührte sich nicht. »Ob er schläft?« wollte Jenny wissen.
»Weißt du, ich glaube, das ist in Wirklichkeit eine Statue«, antwortete Che. »Schau mal, er atmet gar nicht. Es ist eine Statue, ein Ausstellungsstück: Vogel, Nest und Ei. Also werden wir wohl doch ohne Schwierigkeiten das Ei entwenden können.«
Sie entdeckten eine Rampe, die direkt zum Fuß des Schaustücks führte und die wie für sie geschaffen zu sein schien. Sie marschierten hinunter. Jenny behielt den Rokh etwas beunruhigt im Auge, doch es stimmte: Er atmete nicht und zuckte nicht einmal mit einem Augenlid. Es war tatsächlich eine Statue, so wirklichkeitsgetreu, daß sie jeden täuschte, der sie nicht über längere Zeit beobachtete.
Sie gelangten an den Nestboden. Sie schritten um ihn herum. Eine der gewaltigen Schwanzfedern des Rokh hing daraus herab. Jenny griff nach oben und berührte sie. Die Feder war länger als sie selbst und so hart wie Stein.
»Ist dieses Ei nicht viel zu groß, um durch die Türen zu passen?« fragte Gwenny.
»Ganz bestimmt!« bestätigte Jenny.
Che sah sich um. »Von hier unten sieht man eine Himmelsöffnung. Dort muß der Rokh auch eingeflogen sein, bevor er versteinerte. Das heißt, dort hätte er einfliegen können, was der Statue größere Genuinität verleiht.«
»Du wirst schon wieder zentaurenhaft«, teilte Gwenny ihm mit. »Das Wort, das du da gerade benutzt hast, kann ich mir nicht einmal vorstellen.«
Che wirkte verlegen. »Ich habe doch nur gemeint, daß sie, um die Statue echt aussehen zu lassen, auch einen Zugang herstellen mußten, durch den ein echter Vogel das Nest hätte erreichen können. Ganz so, als könnte er wirklich fliegen.«
»Warum hast du das dann nicht gleich gesagt?« fragte sie streng. Doch hielt sie es nicht lange durch, ihn tadelnd anzublicken, schon brach das Lächeln wieder hervor.
»Dann können wir das Ei ja vielleicht mit dem Zauberstab hinauf schweben lassen«, sagte Jenny. »Und von dort wieder nach unten auf den Boden. Und du kannst ihm nachfliegen.«
»Das scheint durchaus möglich«, stimmte er zu. »Vorausgesetzt, ich kann unterwegs ab und zu mal haltmachen.«
»Und wie sollen wir das Ei unter dem Rokh hervorholen?« fragte Gwenny.
»Du kannst den Rokh mit dem Stab aus dem Weg schaffen. Dann kann ich das Ei mit dem Schweif berühren und es leicht genug machen, um es hinauf zu befördern. Wenn Jenny und ich es beiseite gerollt haben, läßt du den Rokh wieder auf dem leeren Nest heruntergehen und benutzt den Stab dann dazu, das Ei zu heben.«
Gwenny holte den Stab heraus und stellte sich vor dem Vogel auf. Sie zeigte mit dem Stab auf ihn, bewegte diesen – und der Rokh hob sich geschmeidig in die Höhe. Nun war das Ei vollständig freigelegt und leuchtete noch kräftiger. Das war tatsächlich der schönste Gegenstand, den Jenny je gesehen hatte. Sie hätte sich nicht träumen lassen, daß ein gewöhnliches Ei so herrlich sein konnte. Aber es war ja auch kein richtiges Ei, sondern ein riesiger Edelstein.
»Jetzt sind wir dran«, sagte Che. Er stellte sich neben dem Ei auf und berührte es sanft mit seinem Schweif, machte es dadurch leichter.
Das Ei blitzte auf. Licht strahlte aus seiner Kristallmitte hervor, überflutete sie alle. Es blendete sie nicht, verlieh ihren Haaren, ihrer Haut und den Kleidern aber ein leuchtendes Schimmern. Plötzlich waren sie Gezeichnete.
»Oho«, machte Gwenny.
Der Rokh krächzte. Er breitete die Schwingen aus und streckte die Beine. Nun stellte er sich auf sein Nest und sah böse funkelnd auf sie hinunter.
Riesige Paneele schoben sich über die Himmelsöffnung und versiegelten sie fest. Im ganzen Schloß schlugen die Türen zu. Man hörte sogar, wie das Fallgatter rasselnd den Vordereingang versperrte, sowie das Ächzen der Scharniere, als die Zugbrücke sich hob.
Sie waren soeben im Namenlosen Schoß mit einem zornigen Ungeheuer von einem Raubvogel eingeschlossen worden. Plötzlich wußte Jenny, was mit den anderen Schloßbewohnern passiert war. Sie hatten sich aus ihren sicheren Zimmern ins Reich des Rokh gewagt und versucht, das Ei zu stehlen. Wer das Ei berührte, erweckte den Rokh zu zornigem Leben. Das war die entsetzliche Falle des Namenlosen Schlosses. Kein Wunder, daß nur wenig davon nach draußen
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