Meeres-Braut
lassen. Die Hebamme des Ogerstamms, die dabei behilflich war, die richtigen Familien zu ermitteln, wenn der Storch sie nicht auseinanderhalten konnte, war zugleich die Hellseherin. Sie verkündete, daß die Runen, die Ochseneingeweide und die Sterne gute und schlechte Nachrichten bedeuteten. Die gute Nachricht lautete, daß Okra irgendwann einmal zu einer herausragenden Persönlichkeit Xanths werden würde. Die schlechte Nachricht bestand darin, daß sie einem verirrten, zufälligen Zauber zum Opfer gefallen war, der einem Fluchungeheuer entkommen war, ohne sein eigentliches Ziel zu erreichen, und daß sie demzufolge ein magisches Talent besaß.
Kudzu hatte auf diesen Skandal so reagiert, wie es jede Ogerin getan hätte: Sie hatte die Hellseherin in den See geworfen, wo sie ohne bemerkenswerte Spur verschwunden war; nur am Wasserrand hatten sich ein paar Knochensplitter gezeigt, und die hatten die Seeanwohner schon bald verschlungen. Sie hatte das eiserne Horoskop so tief in den Boden geschleudert, daß geschmolzene Lava das dadurch entstandene Loch ausfüllte. Dann hatte sie Okra wieder mitten ins Festgetümmel zurückgezerrt, in das Hauen und Prügeln, zu dem Erdbebentanz und der Bühnenschau mit betrunkenen Harpyien, die einander beharpten, und hatte so getan, als wäre das Horoskop nie errechnet worden.
Doch Okra wußte es besser. Verschämt hatte sie sich von den Feierlichkeiten davongeschlichen und in dem kalten, von Ratten übersäten Keller versteckt. Das war ein angenehmer Ort, doch könnte man sie hier finden, und so war sie die steinerne Wendeltreppe hinuntergestiegen, immer tiefer und tiefer bis zur Hauptküche, wo man das Hochzeitsmahl zubereitet hatte. Hier lagen noch immer Teile von zerhackten Ungeheuern herum; sie mußten von den Tellern gefallen sein. Als Okras gerötete Augen sich an die rauchige Dunkelheit gewöhnt hatten, erblickte sie Seehaferkekse, sowohl einfache als auch vergiftete (sie unterschieden sich im Geschmack), die über den ganzen Steinfußboden verstreut dalagen. Irgend jemand hatte ein Faß mit Wein über dem Küchentisch, dem Fußboden und eine betrunkene Ratte ausgegossen, die bewußtlos unter dem Tisch lag. Es war ein sehr behaglicher Zufluchtsort, und Okra konnte sich dort so lange verstecken, bis das oberirdische Getöse zu einem dumpfen Grollen verklang.
Das war eine von Okras frühen Erinnerungen, und für Ogerverhältnisse war es nicht einmal die schlechteste. Doch seitdem hatte das Wissen sie heimgesucht, daß sie mit einem magischen Talent gestraft war. Natürlich verfügten alle Oger über Magie, und zwar über jede Menge; Magie war es schließlich, die ihnen ihre gewaltige Kraft, Häßlichkeit und Dummheit bescherte. Aber ein eigenes Talent? Das war entsetzlich! Kein Wunder, daß sie klein und unscheinbar und undumm war; ihre natürliche Magie war entwichen, um zu diesem anderen Talent zu werden. Doch mit etwas Glück würde sie nie entdecken, um was es sich dabei im einzelnen handelte.
Ihre zweite große Erinnerung stammte aus ihrem dreizehnten Jahr. Damals hatte es geregnet, wie es in dieser Jahreszeit jeden Nachmittag der Fall gewesen war. Dicke, dampfige Wolken durchnäßten alle mit gigantischen Wassermassen, die die heißen Felsen überschwemmten und die Heißwasserseen abkühlten. Dampf stieg auf, doch der gefrierende Regen durchschnitt ihn, stellte einen Wirbelwind aus Dampf her, der die Höhlen durchflutete und das Atmen fast unmöglich machte. Es war wunderbar.
Im Eßzimmer roch es nach faulem Kohl und gekochten Kadavern. Auch das war wunderbar. Okra bürstete sich ihr unogerhaftes blondes Haar hoch, um die kleine Schlauschlinge zu verbergen, die sie um den Kopf trug, und begab sich hinein. Schlauschlingen wirkten auf die meisten Oger kaum, weil zwei mal nichts immer noch nichts ergab, Okra aber half sie dabei, wachsam genug zu bleiben, um ihre anderen Schwächen zu verbergen. Eine davon war das Asthma; seitdem es sie heimgesucht hatte, wollte es nicht mehr weichen. Deshalb mußte sie modische Heiserkeit vortäuschen, wo sie tatsächlich Atembeschwerden hatte.
Sie war immer noch naiv genug, um zu glauben, daß ein Geburtstag für alle möglichen Leute von Wichtigkeit sei bis auf das Geburtstagskind selbst. An diesem Tag wurde sie von diesem Irrglauben geheilt. Der Geburtstag war nur ein Vorwand für ein weiteres Geraufe und einen neuen Schrecken. Später sollte sie sich wünschen, niemals diesen Geburtstag gehabt zu haben, doch damals hatte sie ja
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