Meeres-Braut
angewurzelt stehen. Der Paß war fort! Er mußte während ihres wilden Ritts in die Tiefe herausgefallen sein.
»Oh, nein!« sagte Jenny. Und dann: »Sammy – such den Paß!«
Der Kater rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Doch am Fuß des Abhangs blieb er stehen. Der Hang war zu steil für ihn. Der Paß mußte irgendwo oben am Spaltenhang liegen – unerreichbar für sie.
Inzwischen wurde das Beben immer stärker. Kein Zweifel, der Drachen kam auf sie zu.
»Oh, was sollen wir denn jetzt tun!« rief Gwenny entsetzt.
»Sammy!« schrie Jenny. »Such uns das beste Versteck vor dem Drachen!«
Der Kater tat etwas Merkwürdiges: Er zögerte. Er kam ein paar Schritte auf Che zu, dann schritt er wieder davon und schien nicht zu wissen, wo er hin sollte. Das war ein Hinweis darauf, daß es überhaupt keinen guten Ort gab, um sich vor dem Drachen zu verstecken. Sie befanden sich schließlich am Boden der Spalte – in seinem Jagdrevier. Da war es nur wahrscheinlich, daß er alles abgedeckt hatte.
Über den Sträuchern im Osten stieg eine Dampfsäule auf. Das war der Dampf des Dampfers! Gleich würde der Drachen selbst zu sehen sein, und im nächsten Augenblick würde er sie erreicht haben.
Wenn es schon kein Versteck gab, was sollten sie denn dann am besten tun? Gab es irgendeine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen? Gwenny zermarterte ihr Gehirn, versuchte, sich etwas einfallen zu lassen. Doch ihr Kopf war viel zu verklebt von Angst, um irgendwelche nützlichen Gedanken durchzulassen. Und sie sah, daß Jenny und Che gleichermaßen versteinert zu sein schienen.
Da erschien der Drachen. Er war lang, flach und sehnig, mit sechs gedrungenen Beinen, Stummelflügeln, großen Zähnen und sehr viel qualmendem Dampf. Erst hob er seine Vorderbeine und sprang vor, dann die mittleren und schließlich die hinteren, so daß sein schnelles Womppen eher der Bewegung einer rasenden Raupe als einer Schlange glich. Doch war er viel zu schnell, um vor ihm davonzulaufen.
Sie sahen Sammy dort stehen. Zu schade, daß er ihnen nicht sagen konnte, was sie tun sollten! Doch der Kater löste keine Probleme, er fand nur Sachen. Sofern sie nicht hoffnungslos außer Reichweite waren wie etwa ihr Passierschein.
Nun begann der Drachen direkt auf sie zuzusteuern, seine Schuppen schimmerten grün. Dampfschwaden entwichen seinen Nüstern und versengten das Laubwerk der Sträucher zu beiden Seiten des Wegs. Sie würden alle bedampft und gegart werden, noch bevor er sie auffraß.
Da quetschte sich ein halber Gedanke in Jennys Geist, vielleicht wurde er ja von der Überlast der Angstgedanken nach vorn gedrückt. »Sammy!« rief sie. »Such uns das beste, was wir jetzt tun können!«
Der Kater machte einen Satz auf Che Zentaur zu und sprang ihm auf den Rücken, fuhr mit seinen Krallen in ihn hinein. Aus seiner Lähmung gerissen, machte Che einen Satz nach vorn – direkt auf den heranstürmenden Drachen zu. Er jagte an Gwenny und Jenny vorbei und blieb plötzlich wieder stehen, war erneut wie angewurzelt. Seine kleinen Flügel flatterten mitleiderregend. Gwenny erinnerte sich an seinen Traum vom Fliegen. Im Traum hatten seine Flügel Fleisch angesetzt und waren gefiedert, doch im Leben waren sie fluguntauglich. Sie waren einfach zu klein und verfügten über zu wenig Flugfedern. Er konnte nicht davonfliegen, selbst wenn er sich leicht genug machte, um wie eine Seifenblase durch die Luft zu schweben – die Flügel waren einfach noch nicht ausgebildet.
Ob Sammy wohl meinte, daß Che sie alle noch einmal mit seinem Schweif streifen sollte, damit sie so leicht wie Luft wurden und so weit hochsprangen, daß der Drachen sie nicht erreichen konnte? Doch dafür war es schon zu spät, denn Che würde der erste sein, der gefressen wurde. Und überhaupt – wenn nicht gerade ein kräftiger Windstoß kam, würden sie doch nur wieder zu Boden sinken, wo der Drachen sie schon erwarten würde, um nach ihnen zu schnappen. Es gab nicht einmal Bäume hier, die groß genug gewesen wären, um sich darin zu verstecken, außerhalb der Reichweite des Drachen. Keine Frage, die Spalte war eine einzige Falle.
Der Drachen womppte auf Che zu – und hielt inne. Sein schreckliches, zahniges Maul ging auf, seine Zunge hob sich – da fuhr er dem Zentauren damit über das Gesicht.
Endlich begriff Gwenny, was los war. »Das ist ein Flügelungeheuer!« rief sie. »Selbst wenn er nicht fliegen kann, hat er doch noch Flügel. Genau wie du. Und kein
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