Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als ein Sommer

Mehr als ein Sommer

Titel: Mehr als ein Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Eriksson
Vom Netzwerk:
Händen. Auf der anderen Seite der Waage rülpste Ammit und knirschte mit den Zähnen. Trevor hatte das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, und lehnte sich gegen die eiskalte Steinwand. Anubis blickte zu ihm herüber. »Ihr Ausländer wisst Riten nicht zu würdigen.« Er hielt inne und streckte seine Hände aus, um Trevor zu zeigen, was er darin hielt. »Lausche den zeitlosen Wehen deines Herzens.«
    Die tiefrote Masse pulsierte, glänzte im Schein des Fackellichts. Die Höhle war erfüllt von rhythmischen Schlägen. Trevor hielt sich mit den Händen die Ohren zu.
    Anubis legte das Herz vorsichtig in die leere Schale der Waage. Als die Waagschalen daraufhin zu schwingen begannen, fixierte er Trevor mit stählernem Blick. »Herzen lügen nicht«, sagte er.
    Drei Augenpaare folgten dem Zeiger, der sich langsam vor und zurück über den Waagebalken bewegte.
    »Sollen wir wetten, Anubis?«, bettelte Ammit und rieb ihre Tatzen mit den langen Krallen gegeneinander.
    »Ich wette nicht«, höhnte Anubis. »Ich bin Techniker, kein Romantiker. Gleichgültig, in welche Richtung die Waage ausschlägt, ich habe meine Arbeit getan.«
    Während die drei zuschauten, wobei jeder von ihnen auf einen anderen Ausgang hoffte, verlangsamte sich der Ausschlag des Zeigers. Von der einen Seite zur anderen.
    Von der einen Seite... zur anderen.

20

    Trevors Weihnachtstraum erschütterte ihn bis ins Mark. Hieß es nicht, dass es ein übles, wenn nicht gar ein fatales Vorzeichen war, wenn man von seinem eigenen Tod träumte? Und was noch schlimmer war: Der Traum endete, bevor er wusste, wie alles ausging. Nachts im Bett, wenn er die Augen schloss, um einzuschlafen, sah er immer nur das brennende Glühen der Augen dieses Wesens, das sowohl Mann als auch Schakal war. Er sah das rosafarbene, pochende Fleisch seines eigenen bleiernen Herzens und den widerwärtigen Hunger auf dem geifernden Gesicht von Ammit. Am Mittwoch nach Neujahr — einem klaren Tag mit Temperaturen von minus dreißig Grad und seinem vierzigsten Geburtstag — reichte er seine Kündigung ein. Andy las den Brief und stieß einen grunzenden Laut aus. »Du kannst dir nach der Mittagspause deinen Scheck und ein Empfehlungsschreiben abholen.«
    Der Scheck belief sich auf eine erhebliche Summe, bedingt durch eine Ansammlung von Überstunden und Urlaubsgeld zuzüglich eines Bonus für jahrelange Dienste, wie es im Brief hieß. Er löste den Scheck bei der Bank ein und überwies die Summe auf sein Konto. Dann rief er den Makler unter der Nummer an, die er sich im Herbst notiert hatte, und fuhr nach Millarville. Der Besitz wirkte im fahlen Licht des Winters noch verfallener. Er parkte auf der Straße und watete durch die Schneeverwehungen die Auffahrt hinunter und auf den Hof. Mit einem losen Brett, das er vom Zaun heruntergerissen hatte, grub er sich seinen Weg zur Tür. Der Makler hatte ihm gesagt, dass er den Schlüssel versteckt unter der Dachrinne der Veranda finden würde. Er hatte ihm ebenfalls versichert, dass ihn das Anwesen nicht mehr kosten würde als ein Butterbrot; der Besitzer war seit über drei Jahren tot — Selbstmord —, und die Witwe wartete verzweifelt darauf, einen Käufer zu finden.
    Die Scharniere der Tür quietschten, als er auf die hintere Veranda hinaustrat. Ein Paar lehmverkrustete Gummistiefel lagen wie hingeworfen in der Ecke, und an einem Haken an der Wand hing steif eine Jacke, auf der sich Schimmel gebildet hatte. Er stieß die Küchentür auf. Dicke Schmutzlagen verkrusteten sämtliche Flächen, und der Raum stank nach dem Kot von Ratten, Mäusen und sonstigen Nagern. Trevor schauderte. Wenn man von dem Dreck absah, wirkte der Raum, als würden Menschen darin leben: Der Tisch war für zwei gedeckt, im Spülstein häuften sich schmutzige Teller. Eine offene Blechdose stand auf der Arbeitsplatte neben dem Herd, er blies den Staub herunter und rollte dann das vergilbte Etikett, das sich abgelöst hatte, wieder glatt. Schweinefleisch mit Bohnen. Er tippte mit dem Finger auf die versteinerte Schlacke auf dem Boden der Pfanne und fragte sich, ob der Besitzer sich vor dem Abendessen das Leben genommen hatte. Er lief von Zimmer zu Zimmer, wobei sein Atem ihm in Wolkengebilden aus gefrorener Feuchtigkeit voranging. Mäuse huschten in den Wänden, als sie seine Schritte vernahmen. Im Schlafzimmer hing Garderobe in den Schränken, die Laken auf den Betten waren kantig eingeschlagen, wie man es in Krankenhäusern tat, ein offener Tiegel mit Feuchtigkeitscreme

Weitere Kostenlose Bücher