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Mein ist dein Tod

Mein ist dein Tod

Titel: Mein ist dein Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Ferkau
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ist echt! Echt, Leute!«, schrie jemand. Schimmerte Begeisterung in seiner Stimme?
    Lenas Kamera huschte von den Gästen zu den Zuschauern und wieder zu Max. Sie spürte nicht, dass sie weinte.
    Nun brach die Hölle los!
    Stühle wurden gerückt. Gäste sprangen auf.
    Viele zückten ihre Smartphones und filmten.
    Männer schrien. Nicht wenige versuchten ihre Furcht wegzufluchen. Frauen fingen an zu heulen. Stimmen überschlugen sich, wehten durcheinander wie Fetzen zerrissener Pesttücher. Zuschauer rannten weg, verschwanden in Seitenstraßen, andere wieder sprangen unsicher von einem Bein aufs andere. Vor allen Dingen Männer, die sich einmischen wollten, wurden von ihren Begleiterinnen festgehalten, die das unbedingt verhindern wollten.
    Nicht wenige tippten die Rufnummer der Polizei, nahm Lena an. Wurden Freunde angerufen? Oder wurde die Tat gesimst oder gar getwittert? War das Informationsbedürfnis größer als der Wille, Hilfe zu leisten?
    Schweine! Sie alle sind Schweine! Max, du hattest Recht! Sie twittern, anstatt einzugreifen!
    Das Opfer brüllte wie am Spieß. »Helft mir! So helft mir doch! Ich sterbe! HIIIILFE! Das ist kein Spaß. HIIILFE!«
    Max hatte Lena erklärt, dass laut der Präventionsmaßnahmen des LKA Hilferufe wirkten, da sie einen Instinktkern trafen, ähnlich der Hilferufe, wenn es brannte und jedermann flüchtete. Er hatte gelacht und den Kopf geschüttelt. Bei Feuer funktionierte es, denn da rettete man lediglich seine eigene Haut. Die Haut eines anderen Menschen hingegen war einem völlig egal.
    Er hatte Recht gehabt.
    Niemand kam dem Alten zu Hilfe. Es war unvorstellbar, aber alle blieben in ihrem unsichtbaren Rahmen, als würde sie der Tod ereilen, wenn sie eine unsichtbare Grenze überschritten. Lena meinte , diese Grenze fast sehen zu können. Wie unsichtbarer Stacheldraht. Jeder gefangen in sich und seiner Furcht. Ein paar Schritte nach vorne, wenige zur Seite, jeder unsicher, jeder bereit und doch nicht in der Lage, die geheime Zone zu überschreiten.
    » Hören Sie auf!«, rief ein Mann laut, damit Max es hörte. Seine Stimme zitterte, doch er wollte etwas tun, auch wenn es sinnlos war. Rufen! Wenigstens das wollte er tun. Schimpfen, befehlen! »Hören Sie verdammt noch mal damit auf!«
    » Lassen Sie das! Der Mann leidet!«, rief ein anderer, der sich für tapfer hielt. Seine Stimme war kraftvoll, hart, voller Durchsetzungsvermögen, dennoch war es nur eine Stimme, die in anderen Stimmen versank wie ein Hoffender im Treibsand des Elends.
    Lena schluchzte, als sie durch die alles verengende komprimierende Linse der Kamera die Gesichtszüge der Menschen einfing. Sie waren verwirrt, einige wollten helfen, nicht alle, aber doch manche, begriff Lena, denn die Kamera fing Gesichter ein, wie das menschliche Auge sie nicht sah. Der Fokus bewirkte eine Konzentration auf das Wesentliche. Auf die Seele der Menschen, die Zeugen einer Schandtat wurden. Zugekniffene Augen, zuckende Mundwinkel, Tränen, Schweiß, pulsierende Wangenmuskeln.
    N iemand machte den ersten Schritt, niemand wagte es, diesen Mann mit dem Stromberg-Bart und den langen Haaren anzuspringen, ihm das Messer zu entwenden, ihn daran zu hindern, einen Mord zu begehen. Sie waren so viele, es wäre ein Kinderspiel gewesen.
    Max hieb dem Alten das Messer in die Brust. Einmal und noch einmal.
    Das Geschrei wurde lauter.
    Kinder quiekten wie am Spieß. Wie Ferkel, denen die Zitzen der Mutter genommen worden waren und die hungrig waren nach Normalität, nach der Selbstverständlichkeit dessen, was ihr Leben ausmachte und in diesen Minuten weggewischt und verunstaltet wurde wie ein noch feuchtes Bild.
    Arme Kinder. Wie werdet ihr damit klarkommen? Was werden euch eure Eltern sagen? Werdet ihr daraus lernen?
    Gäste rannten weg, ohne zu bezahlen, als hätte sich eine Armee vor ihnen aufgebaut, die sie mit Gewehren bedrohte. Zuschauer stoben auseinander. Männer mit breiten Schultern kauerten sich auf ihren Stahlrohrstühlen zusammen wie Kinder, lediglich die Greisin zeterte und hüpfte erstaunlich beweglich hinter ihrem Rollator hin und her, während der Punk sie nicht losließ.
    » So wie damals! So wie damals!«, zeterte sie.
    Es ist so einfach. Tut euch zusammen und überwältigt den Mörder!
    Den Mörder, den ich liebe.
    Er ist nur einer!
    Ihr seid viele!
    Wie zum Hohn stahl sich die Sonne hinter den Wolken hervor und wärmte den Alexanderplatz, wärmte die Trägen, die Wankelmütigen, die Gaffer und Starrer, wärmte die Zaghaften,

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