Memento - Die Überlebenden (German Edition)
einer gefährlichen Grippe in einer Anstalt wie der, vor der er gerade steht.
Er zerrt das Walkie-Talkie wieder hervor. »Wenn ihr sie nicht findet, kriegt Ingership euch am Arsch!«, brüllt er in das Gerät. »Vermasselt es bloß nicht! Ende!«
Es ist spät. Der Mond ist hinter einem grauen Dunstschleier verborgen. El Capitán überlegt, ob er reingehen und nachsehen soll, ob Vedra noch in der Küche arbeitet. Er mag es, wie sie im Dampf des Geschirrspülers aussieht. Er könnte ihr befehlen, ein Sandwich für ihn zu machen. Schließlich ist er der ranghöchste Offizier am Boden hier im Hauptquartier. Doch er weiß schon, wie es mit Vedra ausgehen wird. Sie werden sich unterhalten, während sie das Fleisch schneidet, ihre Hände rau von all der Arbeit, so viel von ihrer vernarbten Haut sichtbar, von ihrem versengten Fleisch. Sie wird mit ihrer sanften Stimme reden, und schließlich werden ihre Augen zum Gesicht seines Bruders gleiten, das immer da ist, immer mit leeren Blicken über seine Schulter starrt. Er hasst es, wenn die Leute immer wieder zu Helmud blicken, während El Capitán spricht, der törichten Marionette, die hinter seinem Kopf tanzt, und dann steigt eine Wut in ihm auf, so schnell und so verzehrend, dass er in Raserei geraten könnte. Manchmal, nachts, während er den tiefen Atemzügen seines schlafenden Bruders lauscht, stellt er sich vor, wie er sich auf den Rücken rollt und Helmud einfach erstickt. Dem Spuk ein Ende macht, ein für alle Mal. Doch wenn Helmud stirbt, stirbt El Capitán auch, das weiß er. Sie sind beide zu groß und zu sehr ineinander verschmolzen, als dass einer von ihnen sterben und der andere weiterleben könnte. Trotzdem. Manchmal scheint es so unausweichlich, dass er sich kaum noch beherrschen kann.
Statt Vedra in der Küche zu besuchen, beschließt er, in den Wald zu gehen – das, was von ihm übrig ist, das, was inzwischen wieder gewachsen ist –, um die Fallen zu kontrollieren. Seine Fallen sind zwei Tage hintereinander geleert worden. Er hat etwas gefangen, kein Zweifel, doch dann ist etwas anderes vorbeigekommen und hat die Beute gefressen.
Nachdem er das Hauptquartier hinter sich gelassen hat, passiert er eine Reihe Festungen aus Holzplanken und Metallplatten auf einem kahlen Feld, mit einer stacheldrahtbewehrten Steinmauer. Hinter der Mauer liegen zerstörte Gebäude. Eines davon hatte eine Reihe Säulen. Zwei davon stehen noch, mit nichts dahinter als einem rußigen Himmel. El Capitán liebt den Himmel mehr als alles andere. Als Kind hat er davon geträumt, zur Air Force zu gehen. Er wusste alles über das Fliegen, er hatte Bücher aus den Bibliotheken und ein altes Flugsimulatorspiel, an dem er Stunden über Stunden geübt hat. Er wusste nichts über seinen leiblichen Vater, außer, dass er in der Air Force gewesen war, ein Kampfpilot, der wegen psychischer Probleme entlassen worden war. »Völlig durchgedreht«, hatte seine Mutter immer gesagt. »Ein Glück, dass er weg ist.«
Weg? Wohin? El Capitán fand es nie heraus, doch er wusste, dass er in gewisser Hinsicht war wie sein Vater – er wollte am Himmel sein und er war verrückt. Sein Geländemotorrad war das Nächste an einem Flugzeug, das er je gehabt hatte, die weiten Sprünge, wenn er über eine Rampe gejagt war. Er denkt nicht mehr gerne daran zurück, heutzutage.
Er ist kein Pilot, aber er ist Offizier. Er ist verantwortlich für die Auslese der neuen Rekruten. Er entscheidet, wer ausgebildet werden kann und wer untauglich ist. Er schickt die Tauglichen zu den Umerziehungs-Außenposten, wo sie gefügig gemacht werden, ein Stück bereitwilliger, Befehle auszuführen und sich nicht aufzulehnen. Und er sondert die Schwachen aus. Ein paar von ihnen hält er in einem Pferch auf dem Gelände. Seine Berichte gehen direkt an Ingership über Ingerships persönliche Boten.
Manchmal schickt Ingership El Capitán etwas, das er den schwächsten Rekruten zu essen geben muss – deformierte Maiskolben, bleiche Tomaten mit mehr Staub als Fruchtfleisch im Innern, bestimmte undefinierbare Fleischsorten. Er berichtet Ingership dann, welche Nahrungsmittel krank machen und welche nicht. Woher sie kommen, weiß er nicht. Er stellt keine Fragen. El Capitán benutzt die Rekruten auch für seine eigenen Tests – Beeren, die er im Wald findet, Pilze, Blätter, die aussehen wie Basilikum oder Minze, ohne es zu sein. Manchmal werden die Rekruten krank. Hin und wieder sterben sie. Und gelegentlich bleiben sie auch
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