Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc
einen schmalen Weg zu gelangen, der, auf beiden Seiten von den für Irland charakteristischen Steinmauern begrenzt, direkt bergan führte. Es roch nach Wolle und Dung; vermutlich wurde dieser Weg hauptsächlich von Schafen frequentiert, und ich stiefelte gerade auf ihren kleinen schwarzen Hinterlassenschaften
herum. Und wenn schon. Ich atmete befreit auf und stapfte los, dem Weg folgend, der direkt auf den Gipfel des Mount
Brandon zu führen schien, der schwarz und gewaltig vor mir aufragte. Eine schmale Mondsichel, die verwaschen durch
nächtliche Wolkenfetzen schimmerte, spendete ein wenig
Licht, aus dem mein Nachtsichtgerät ein grünstichiges Bild 316
zauberte, lediglich der Berg verweigerte sich solchen
Mätzchen.
Ich habe in den vergangenen Jahren viel über die Halbinsel Dingle und ihre Geschichte gelesen, nicht zuletzt deshalb, weil die entsprechende Literatur in der Stadtbibliothek einen Schwerpunkt bildet, um den man kaum herumkommt, und
obwohl ich die archäologischen Fundstätten nie besucht habe, war mir, als ich bergan stieg, klar, dass ich mich einer Gegend näherte, die einst eine Wiege des frühen Christentums gewesen ist. Im fünften bis achten Jahrhundert entwickelte sich in Kilmalkedar nordöstlich von Ballyferriter jene Kultur, der die irischen Missionare entstammten, die später unermüdlich und zahllos durch das kontinentale Europa zogen und es
christianisierten. Auf wenigen Quadratmeilen findet man mehr steinerne Kreuze, gut erhaltene, bienenkorbartige Oratorien und Überreste eisenzeitlicher Kirchen als sonst irgendwo. Mein Fluchtweg würde irgendwann auf die Saints' Road einmünden, den Pfad der Heiligen und Pilger, die hier vor weit über tausend Jahren zur Spitze des Mount Brandon hinaufstiegen, einst eine der bedeutendsten Pilgerrouten des Abendlandes.
Plötzlich konnte ich es kaum erwarten. Schließlich wartete auch auf mich dort oben so etwas wie Erlösung. Ich fiel in einen maschinenunterstützten, für meine Verhältnisse lockeren Dauerlauf bergauf, der einen unvoreingenommenen Beobachter vermutlich dennoch nicht wenig erstaunt hätte. Doch einen solchen Beobachter gab es nicht. In grandioser Einsamkeit rannte ich über ansteigende Wiesen, setzte über hüfthohe Mauern hinweg, den Berg hinauf, einem ablandigen Wind
entgegen, der an meinen Haaren zerrte und nach feuchtem Gras und Nebel roch, rannte, ohne mich umzusehen, und ließ die Stadt hinter mir zurück, die mein Zuhause gewesen war.
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Gehen, um nie mehr wiederzukommen, scheint ein zentrales Thema in meiner Familie zu sein. Nach dem Tod meiner Eltern bin ich nie wieder in Boston gewesen. Mein Dad ist aus Irland weggegangen und hat zwar ab und zu davon gesprochen, seine Heimatstadt zu besuchen, aber er hat es nie getan. Und meine Mutter hat uns verlassen, um nie zurückzukommen, nicht
einmal für fünf Minuten oder um Sachen zu holen oder mit Dad zu streiten.
Der größte Teil meiner Erinnerungen an früher ist unscharf und verwaschen, und es braucht Mühe und Zeit, mir
Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Doch einige Szenen gibt es, die mir stets präsent sind, hell leuchtend und überwältigend farbig, wie diese von hinten beleuchteten Werbeplakate, die man manchmal auf Bahnhöfen oder Flughäfen findet. Eine
davon ist die: Ich komme abends nach Hause. Ich bin sieben Jahre alt und staubig, weil wir den Nachmittag über auf einer Baustelle gespielt haben, auf der seit etlichen Wochen nicht mehr gearbeitet wird, ein herrliches, aber natürlich verbotenes Spielgelände. Ich ziehe die Haustür hinter mir zu und hoffe, dass es mir gelingt, nach oben zu schleichen, ehe Mom etwas bemerkt, aber in der Küche ist nicht Mom, sondern Dad. Dad steht am Herd und brät Steaks. Auf dem Tisch stehen zwei Teller und große Gläser und eine große Flasche Cola und drei Flaschen Steaksoße und eine Plastikbox mit Salat. Es riecht nach Steaks und Backkartoffeln. Ich bleibe stehen, weil ich Dad noch nie am Herd habe hantieren sehen. Geh dich
waschen, sagt er mit einem seltsamen Lächeln. Heute ist Männerabend.
Während des Essens fragt er mehrmals, ob es mir schmeckt, so, als glaube er mir nicht, wenn ich begeistert kauend nicke.
Dann erklärt er, dass Mom weggegangen ist, für eine Weile, und dass wir jetzt ein Männerhaushalt sind und miteinander 318
zurechtkommen müssen und dass ich ihn dabei unterstützen muss, damit es klappt. Es klingt toll, wie er das sagt. Zum Schluss setzt er zögernd hinzu: Kann sein, es ist für
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