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Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc

Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc

Titel: Microsoft Word - Eschbach, Andreas - Der letzte seiner Art.doc Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: SF-Online
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Schlafsaals liegt, todmüde und doch hellwach, der an die Decke starrt und sich fragt, ob er das Richtige getan hat.
    Das scheint alles tausend Jahre her zu sein und außerdem jemand ganz anderem passiert. Heute sitze ich hier in dieser kleinen grauen Küche, öffne eine unbeschriftete Dose, leere die schleimige, fahlweiße Masse in einen Teller und überlege, ob ich Minzsoße dazu nehme oder Tabasco oder etwas anderes.
    Und manchmal geschieht es, dass ich dasitze, esse und
    begreife, wie mein Leben, jede einzelne Entscheidung, die ich getroffen habe, mich hierher geführt hat, an diesen Ort, an diesen Tisch, vor diesen Teller. Als würde ein Schleier
    gehoben, begreife ich in diesen magischen Augenblicken, was es heißt, dass ich niemals wieder einen saftigen Braten mit Backpflaumen essen werde oder ein Stück Pizza, von dem
    Fäden geschmolzenen Käses weghängen, nicht einmal mehr
    einen Apfel. Ich glaube in solchen Momenten sogar zu
    erahnen, was es mit dem Leben insgesamt auf sich hat, und es ist die Ahnung von etwas so Gewaltigem, Ungeheurem, dass ich scharf einatme und den Kopf schüttle und mich frage, wie die Boston Red Sox spielen werden, nur um es loszuwerden.
    Dann suche ich Zuflucht bei Seneca, immer wieder nur bei ihm. Wesentlich in einem Menschenleben, sagt er, ist nicht, allemöglichen Siege zu erringen oder großartige Dinge zu vollbringen – wesentlich ist, seiner Laster Herr zu werden, das ist der größte Sieg. Man muss so weit kommen, sich innerlich über die Drohungen und Versprechungen des Schicksals zu
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    erheben, und verstehen, dass es nichts hat, was würdig wäre, unsere Hoffnungen daran zu hängen. Wesentlich ist, widrige Geschicke frohmütig ertragen zu lernen. Du bist nicht unglückselig, wenn du es nicht zu sein glaubst, sagt er.
    Um diese Überzeugungen geht es, so verstehe ich ihn. Nicht das, was mir geschieht, ist wesentlich, sondern wie ich mich dazu stelle. Was mir geschieht, kann ich mir nicht aussuchen, aber was ich darüber denke, sehr wohl. Ich könnte mich in Verzweiflung fallen lassen und bejammern, dass ich keinen nennenswerten Darm mehr habe: Es würde mir keinen Zoll
    davon zurückbringen und nicht das Geringste ändern, außer, dass ich mich schlecht fühlen würde. Das zu verstehen ist, was wahrhaft frei macht. Manchmal verstehe ich es sogar.
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    Unser Leben ist lang genug und ist uns reichlich zugemessen, die größten Dinge zu vollbringen, wenn wir es nur als Ganzes gut zu nutzen wissen. Wenn wir es aber verschwenderisch und unachtsam verfließen lassen und uns für keine große Aufgabe einsetzen, und schließlich tritt die letzte Notwendigkeit heran, dann fühlen wir: Das Leben, das wir in seinem Gange nicht beachtet haben, ist nun vergangen.
    Seneca, DE BREVITATE VITAE

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    Irgendwann an diesem Nachmittag ging ich die Liste mit den Telefonnummern und Adressen durch, die Gabriel mir genannt hatte, und ich spielte mit dem Gedanken, einen von ihnen anzurufen.
    Juan auf jeden Fall nicht. Er ist derjenige unserer Gruppe, zu dem ich am wenigsten so etwas wie ein persönliches Verhältnis habe. Ich glaube, den anderen ging das ähnlich – mit
    Ausnahme von Gabriel. Er und Juan verstanden sich stets
    bestens. Ich bezweifle, dass irgendjemand kapiert hat, warum eigentlich.
    Mir war Juan Gomez immer ein Rätsel. Vom ersten Tag an
    empfand ich ihn als anstrengend. Er ging an alles mit einer derartigen Verbissenheit heran, als hinge das Schicksal der Welt davon ab, dass er keine Fehler machte. Er neigte dazu, in Streitfragen einen Standpunkt einzunehmen, den er für den moralisch überlegeneren hielt, und einem dann beibringen zu wollen, was richtig und was falsch war. Er wäre
    wahrscheinlich ein guter Richter geworden – oder ein
    schrecklicher, wer weiß? Verlässlich war er immer, das muss man sagen. Wenn man mit ihm einen Treffpunkt und eine
    Uhrzeit ausmachte, die Welt hätte untergehen können und er wäre trotzdem pünktlich zur Stelle gewesen.
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    Vielleicht waren diese rigide Haltung und seine moralischen Ansprüche eine Art Reaktion auf die Lebenseinstellung seines Vaters. Soweit ich weiß, stammt er aus Texas, kennt seine Mutter nicht und ist von einem ziemlich verrückten Vater großgezogen worden, der keine Arbeitsstelle länger als zwei Monate behalten konnte, ständig hinter Frauen her war und in Schwierigkeiten landete. Die beiden mussten öfter bei Nacht und Nebel fliehen, mit ihren paar Habseligkeiten, wenig mehr, als in drei Koffer passte. Juan

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