Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
Blick an Mira hängen, bis diese schließlich den Kopf senkte.
»Ihr wisst nicht, was ihr tut! Glaubt mir, ihr wisst es einfach nicht!«, murmelte er, warf seinen Schal nach hinten und drehte sich grußlos um.
Langsam humpelte er über das Eis. Eine dunkle Gestalt, gekrümmt und klein, so verschwand er in der anbrechenden Abenddämmerung. Mira sah ihm lange nach und merkte erst nach einer Weile, wie entsetzlich sie fror.
10. Kapitel
in dem Mira von unerwarteter Seite Hilfe bekommt
Nach Hippolyts Weggang wurde es rasch dunkel. Die Dämmerung umfing den See und die kleine Insel, bevor eine eiskalte und sternenklare Nacht anbrach.
Die Freunde waren zwar mithilfe zweier Taschenlampen zurück zum Käfer gelangt. Dort angekommen, stellten sie allerdings fest, dass es viel zu dunkel war, um jetzt auch noch den Geheimweg durch die schwarzen Tannen zu finden.
So beschlossen sie, in Thaddäus’ Baumhaus zu übernachten, und holten ein paar Decken aus dem Auto. Außerdem hatte Corrado auch noch einige Schokoladenriegel unter den Sitzen entdeckt, die erst durch die Heizung des Käfers geschmolzen und dann durch die Kälte gefroren waren. Es wurde ihr einziges Abendessen. Die Schokolade hatte durch das Schmelzen und Wiedereinfrieren bizarre Formen angenommen. Miras Riegel sah aus wie ein Eiszapfen, und Rabeus hatte lange an etwas herumgekaut, das wie ein abgebrochener Puppenarm ausgesehen hatte. Das Feuer im Herd knisterte, und zu ihrer großen Erleichterung fanden sie in einer verborgenen Eckedes Baumhauses einen Messingeimer mit Kohlebriketts, die sie auf die glühenden Holzstücke schütteten.
Mira verbrachte – wie die anderen – die Nacht eingewickelt in eine Decke auf dem Fußboden. Es war hart und unbequem, und als sie am nächsten Tag erwachte, taten ihr alle Knochen weh.
Die schräg stehende Wintersonne fiel durch das Fenster auf die Schlafenden. Rabeus und Miranda lagen neben Mira. Corrado schnarchte und hatte es sich auf den Bierkästen leidlich bequem gemacht, und Milena schlief neben dem Ofen – gehüllt in ihren Poncho. Obwohl Thaddäus’ Hochbett links über dem Herd wohl die bequemste Schlafgelegenheit gewesen wäre, hatte es keiner über sich gebracht, sich auf die uralte fleckige Matratze zu legen.
Das Feuer im Ofen war in der Zwischenzeit ganz heruntergebrannt und es war lausig kalt. Mira schälte sich aus ihrer Decke und ging auf Zehenspitzen, um keinen ihrer Freunde zu wecken, zum Ofen, in dem das letzte der Kohlebriketts vor sich hin glomm.
Noch nie hatte sie eine Nacht außerhalb ihres Zuhauses verbracht, ohne dass ihre Mutter eine Ahnung hatte, wo sie sich befand. Einen Moment lang verspürte Mira Heimweh und hatte dabei ein rabenschwarzes Gewissen.
Sie fasste ihre Kleidungsstücke, die über dem Ofen hingen, prüfend an. Sie waren trocken. Schnell schlüpfte sie in T-Shirt, Pullover und Jeans. Alles war noch warm und roch nach Rauch.
Jetzt fühlte sie sich schon besser. Sie blickte in Thaddäus’ kleinen Spiegel über dem Spülbecken. Sie sah schmal und blass aus. Mit den Fingern fuhr sie sich durch die verstrubbelten Haare, und gerade, als sie zurück zu ihrem Schlafplatz gehen wollte, stolperte sie über die Fransentasche, die neben Milena auf dem Holzboden lag. Etwas kullerte zu Boden. Es waren die drei Kugeln! Corrados Schnarchen erstarb für einen Augenblick. Mira hielt in der Bewegung inne. Dann drehte sich Corrado auf den beiden Bierkästen um, die unter seinem Gewicht knarrten.
Mira bückte sich, um die Kugeln aufzuheben. Die eine schimmerte grau wie Marmor, die andere war völlig durchsichtig und in der dritten spiegelte sich das ganze Baumhaus in einem einzigen Bild. Milena hatte die Kugeln mitgenommen! Sicher hatten die Freunde vorher beschlossen, sie nie mehr aus den Augen zu lassen. Es waren Zaubergegenstände. Alt und mächtig. Und sie konnten viel Unheil anrichten. Die geheimnisvolle Spiegelkugel, die Kugel, mit der man durch die Zeit sehen konnte, und schließlich diejenige, mit deren Hilfe man mit denen sprechen konnte, die weit weg waren.
Mira ließ die Spiegelkugel und die Marmorkugel schnell wieder in Milenas Tasche gleiten. Nein, sie würde nicht hineinsehen! Nie wieder würde sie in ihre Zukunft schauen wollen, da war sie sich sicher.
Doch als sie die durchsichtige Kugel zurücklegen wollte, kam ihr eine Idee.
Sie zog sich ihren Mantel an und steckte die Kugel vorsichtig in dessen Tasche.
Dann öffnete sie leise die Luke des Baumhauses, knotete sich den Schal
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